Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
Vom Netzwerk:
dem diese beiden Kinder sind. Aber das ist ein schmerzliches Thema für ihn. Kein Wort darüber!“ Sie verzog verächtlich ihren Mund. „Außerdem behandelt er sie alle gleich gut.“
    Der Wein war trotz seiner staubigen Hülle frisch und spritzig. Aber eine Flasche für vier Personen war doch sehr knapp bemessen, obwohl Frank und Wilma an ihren Gläsern nur nippten. Martha hatte nach dem süßen Most zum Abendessen einen quälenden Durst nach perlendem, kühlem Sekt oder zur Not auch einem das Glas beschlagenden kalten Bier, und sie sehnte sich nach einer Zigarette. Sie trank und rauchte normalerweise nicht viel, aber hier schien irgendetwas in ihr auszutrocknen: Sie wollte nur kurz ein wenig Normalität, ein wenig Bewegung, eine Abwechslung für die Augen, einen kühlen Liter alkoholisierten Treibstoffs für die Seele und den Duft einer parfümierten Zigarette. Ihr war, als hätte sich ein eiserner Ring um ihren Magen gelegt – auch das noch! Hoffentlich wurde ihr nicht schlecht! Das würde sie sich nie verzeihen können. Raus, raus!
    Frank erzählte ruhig von seinem Auftrag, seinem Alltag in der Schule, während Wilma ruhig strickend daneben saß und hin und wieder ihre Lippen mit dem Wein benetzte. Offensichtlich bemerkte er Marthas Qual, denn nach einem letzten Schluck Luft aus seinem bereits leeren Glas sagte er zu ihrem Entzücken: „Es wird Zeit, mich für morgen vorzubereiten. Für euch aus der Stadt ist es sicherlich zu früh, jetzt schon ins Bett zu gehen. Wir haben hier einen ehrenamtlichen Dienst eingerichtet, der sich um derartige Bedürfnisse von Besuchern kümmert. Am Platz gegenüber der Kirche ist etwas, was ihr wohl Kneipe nennen würdet. Dort könnt ihr bis Mitternacht auch alkoholische Getränke erhalten. Allerdings möchte ich euch warnen: Betrunkene sind hier nicht gern gesehe n. Aber das muss ich euch sicher gar nicht sagen. Bitte seid leise, wenn ihr zurückkommt. Die Tür ist immer offen, einen Schlüssel braucht ihr also nicht. Einen schönen Abend und gute Nacht!“ Er erhob sich, schwankte leicht, fing sich wieder und ging ohne einen weiteren Blick oder ein weiteres Wort aus dem Zimmer. Die stille Wilma versorgte ihr Strickzeug in ihrem Korb, lächelte lieb und folgte ihm.
    Martha, so erfreut sie auch angesichts dieser Möglichkeit war, an einem weniger einengenden Ort noch etwas zu trinken und ihren bürgerlichen Gewohnheiten zu frönen, wunderte sich denn doch, mit welcher Sicherheit nicht nur ihre Wünsche erkannt worden waren, sondern mit welcher Selbstverständlichkeit von ihr auf Sabrina – immerhin eine Verwandte, die häufiger hier erschien – geschlossen wurde. Und ei n wenig unbehaglich war ihr, dass ihr jetzt kaum eine Wahl blieb: Er hatte für sie entschieden.
    Das schien überhaupt in diesem Haus ein unumstößliches Prinzip zu sein: Er entschied, und jeder beugte sich. Warum? Was war es, das diesem eigentlich scheuen, vermurksten Menschen so viel Macht gab? Warum gab es auch von Wilma, die doch eine eigenständige, sichere und kluge Person war, nie Widerspruch? Sie schickte sich einfach in die Entscheidungen des Familienoberhauptes. Und auch Sabrina schien an Widerstand nicht zu denken. „Gehen wir?“ Mehr sagte sie nicht. Und sie verließen das jetzt in Schweigsamkeit und Dunkelheit versunkene kleine Haus. Die wenigen Meter durch unbeleuchtete Straßen bis zum vom Mondlicht erhellten Platz sprachen sie nicht.
    Die Kirche war ein zierlicher, schlichter Bau, der aber jetzt einen schweren Schatten auf den Kies warf. Schräg gegenüber wuchs ein Gebäude aus dem Dunkel in das Silberlicht, das in dieser schmucken Umgebung nur deswegen auffiel, weil es ein hölzernes, beleuchtetes Schild über dem Eingang trug. Es sprach: „Entspanne in Gott!“ Ansonsten war es wie alle Häuser in diesem Dorf: klein, gepflegt, mit Veranda. Innen allerdings spürte man, dass die Einrichter Menschen aus der normalen Welt gewesen waren. Das hier war eine echte Kneipe mit ihrem Geruch nach Rauch, Alkohol und den Putzmitteln, mit denen man dieser Dünste Herr zu werden versuchte.
    Sie waren die einzigen Gäste in dem kleinen Raum mit der alterlosen Frau hinter der Theke, die heute offenbar für die Bedienung zuständig war, und Martha fühlte sich zunächst ein wenig fremd. Aber als das erste kalte Bier – Sekt gab es nur in der Flasche, und Sabrina lehnte ab, davon mitzutrinken – funkenstiebend ihre Kehle hinuntergeglitten war und langsam Nackenmuskeln wie Magen entspannte, war ihr, als

Weitere Kostenlose Bücher