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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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Bewerber. Aber er beschäftigte sich schon seit Jahren mit alternativen Lebensweisen.
    „Die Schule bei uns“, erläuterte er und krampfte die Hände ineinander, „bringt den Kindern ja nur bei, die Welt zu akzeptieren, wie sie ist, und sich anz upassen. Ich würde diesen Prozess heute Verbürgerlichung nennen – Konsumzwang, Survival of the Fittest, der vermeintlich Starke nach oben, der Schwache nach unten in der Gesellschaft. Verachtung anderer Lebensnormen, rudimentär geregelter, mitleidloser Kampf um materielle Güter.“ Er hatte schließlich festgestellt, dass ihm diese Dinge zuwider waren, und entschied sich gegen den Konzern. Er las viel, machte sich mit verschiedenen Ideologien und Gedankengebäuden vertraut und landete nicht bei Marx und Engels, sondern bei Müller.
    „Das waren ja auch nur zwei gutbürgerliche Dummköpfe, denen die Eitelkeit ins Hirn gestiegen war“, sagte er. „Und was diese beiden Herren mit ihren feisten Wänsten und ihren dürren Theorien für ein Unglück angerichtet haben! Wir dagegen wollen den ganzen Menschen fördern, wollen ihn fernhalten von den Abartigkeiten der modernen Zivilisation und in ihm den Sinn wecken, dass es eine Verantwortung gibt: gegenüber Gott, gegenüber sich selbst und gegenüber dem Mitmenschen.“ Und er schlängelte sich bei diesen Worten auf seinem Stuhl herum, dass er fast mit dem Kopf in seinen mit Suppe gefüllten Teller geraten wäre. Gut so, weiter, dachte Martha und bekämpfte tapfer ein in ihr aufsteigendes Gelächter.
    Allerdings fühlte sie trotz ihrer Belustigung eine Wahrheit in seinen Worten, die so einfach auszudrücken schienen, woran es dieser Welt fehlte: an Verantwortung! Er war seltsam, vielleicht verrückt, aber nicht dumm. „Es ist seit der Schöpfung die Strategie des Antichrist, die Menschen gegeneinander aufzubringen und mit heillosen Theorien zu verwirren, um mit den daraus entstehenden Gegensätzen und Gewaltorgien die eigene Existenz zu rechtfertigen und sich perverse Lust zu verschaffen. Aber lassen wir das. Kinder, bitte ins Bett . Marcel, du achtest darauf, dass alle sich waschen und die Zähne putzen. Gute Nacht!“
    Brav erhoben sich die Kinder und erhielten v on ihrem Vater einen raschen Kuss auf die Stirn. Auch Wilma stand auf, nahm jedes kurz in den Arm und begann, den Tisch abzuräumen. Frank starrte einen Moment vor sich hin, dann sah er Martha mit einem seltsam glänzenden Blick an. Martha erblickte plötzlich einen klugen, beherrschten und zielbewussten Mann, einen gelassenen Gastgeber, der die Rolle in einem absurden Theaterstück nach der Vorstellung zusammen mit seiner Kostümierung einfach fallen lässt. Sie waren allein mit ihm – war das der Grund? „Normalerweise helfen die Kinder, aber heute ist es schon zu spät. Ich würde gern ein Glas Wein mit euch trinken. Ihr macht doch mit? Wir unterhalten uns so gut. Im Keller muss noch eine Flasche Grüner Veltliner liegen – ich bin gleich zurück.“ Mit jugendlicher Energie stand er auf und schlüpfte geschickt durch eine niedrige Holztür im Hintergrund.
    Jetzt waren sie nur noch zu zweit. Trotz ihrer schmerzenden Nackenmuskeln lächelte Martha versuchsweise und sagte: „Und ich dachte, hier wird weder geraucht noch getrunken.“ Sabrina lächelte zurück, wenn auch mit gerunzelter Stirn: „Damit hast du auch r echt. Normalerweise. Aber es muss ihm schon gefallen haben, wenn er sich jetzt nicht zu seinen Studien zurückzieht. Ich habe ihn selten so zugänglich erlebt.“ Dabei strahlte sie eine unerklärliche Zufriedenheit aus. Es war eine stille, in sich gekehrte Freude, von der Martha nur den äußerlichen Glanz zu erhaschen glaubte und deren Ursache sie nicht ergründen konnte. Dennoch wagte sie, trotz der immer wieder aus- und eingehenden Wilma, eine der brennenden Fragen zu stellen, die sich ganz ohne ihr Zutun eingestellt hatten: „Sag mal, zwei dieser Kinder wirken ganz anders. Sind die alle von Frank?“
    Tatsächlich war bei den drei Jüngeren eine Ähnlichkeit in der Physiognomie unverkennbar, während die zwei Älteren ihre Züge von jemand anderem entlehnt zu haben schienen. Die Gesichter waren weicher, eingebettet in eine zarte Rundlichkeit, die ihr bekannt vorkam, aber vielleicht auch einfach nur anziehend auf sie wirkte wegen ihrer größeren Annäherung an das bekannte Babyschema. Sofort bekam Sabrinas Gesicht wieder seine Strenge zurück: „Sprich ihn nicht darauf an! Wilma war vor ihrer Heirat schon mal mit jemandem zusammen, von

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