Variationen zu Emily
verbracht! Man sollte nicht so kompliziert denken. Nimmt einem die wenigen Chancen, die man im Leben hat, und versaut auch noch Monate des Lebens mit enervierenden emotionalen Spasmen. Übrigens rief sie mich lange Zeit später noch einmal mitten in der Nacht an. Saß – nach ihrer Aussage – nackt auf dem Bett und sehnte sich nach mir. Na ja. Hausfrauenreport, Teil fünf. Ich war kurz angebunden und würgte das Gespräch ab. Es hatte einfach nicht gepasst. Lass uns gehen, oder? Ist wieder spät geworden. Soll ich dir ein Taxi rufen? Ok, also nicht. Bis zum nächsten Mal. Ciao.
10. MÜLLERISMUS
Es war Aaron, der geschickt wurde, um sie zum Abendessen zu holen. Er klopfte schüchtern, und auf das zweistimmige „Herein“ steckte er nur seinen blonden Kinderkopf durch die spaltweit geöffnete Tür und sagte leise: „Mama schickt mich. Ich soll sagen: Bitte kommen, das Abendessen ist fertig.“ Martha, die jetzt wieder auf dem Stuhl saß und liebend gern erst geduscht hätte, da sie befürchtete, daß man Sabrinadüfte an ihr riechen könnte, lächelte ihm zu und wollte freundlich antworten, als schon Sabrina mit einem „Wir kommen!“ von dem Bett hochschoss, wo sie noch immer gelegen hatte. Der Kleine zog sich zurück, und Sabrina sagte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Mach bitte schnell. Mein Schwager schätzt es gar nicht, wenn er mit dem Tischgebet lange warten muss.“
Der Ton war wieder kühl und sachlich, und Martha fragte sich, wie Sabrina nach dem Ereignis, von dem ihr immer noch die Knie zitterten, eine solche Geschäftsmäßigkeit an den Tag legen konnte. Hatte das bei ihr gar nichts mit Gefühlen zu tun? Sie war doch auch gekommen – ein la nges, seufzendes Stöhnen, gepresst aus halbverschlossener Kehle, und ein wildes Sichaufbäumen war das bei ihr gewesen. Doch jetzt kehrte sie wieder die Vorgesetzte heraus, die autoritäre Führerin durch den Dschungel fremder Lebensweisen.
Tatsächlich saß schon die gesamte Familie am Tisch, der festlich gedeckt war – ein ländliches Gastmahl nach Breughel. Es duftete aus dem Brotkorb, aus verschiedenen dampfenden Töpfen, aus den Gläsern, in denen sich vermutlich eine Art ökologisch erzeugter Most befand. Alle warteten wohlerzogen und ruhig, in leise Gespräche vertieft. Nur Frank verzog, als sie hereinkamen, sein Gesicht in eine unwahrscheinliche Grimasse, wobei sein fatales Lächeln durchschien wie ein feister, rosiger Bauch durch ein dünnes Hemd.
Als sie sich hingesetzt hatten, fühlte Martha plötzlich zu ihren beiden Seiten eine körperliche Annäherung. Kleine Hände boten sich ihr dar, die angefasst und gehalten werden wollten. Als der Kreis um den Tisch auf diese Weise geschlossen war, richtete der Hausherr den irrlichternden Blick auf die Zimmerdecke und sagte: „Herr, wir sind bereit. Wir danken Dir für Deinen Segen und für alles, was Du uns bescherst. Amen!“ Amen, sagten auch die Kinder und Wilma, sagten auch Martha und Sabrina. Dann wurden die miteinander verbundenen Hände dreimal von oben nach unten bewegt mit den Worten: „Lieber Herrgott, sei unser Gast, segne, was Du uns bescheret hast. Amen!“ Martha schwenkte mit, blieb aber stumm, da sie zwar dieses Kurzgebet aus dem Kindergarten kannte, aber nicht damit gerechnet hatte, dass an dieser Stätte der Weisen ein derart marzipansüßer Kinderreim zum Einsatz kam. Das Amen sprach sie mit.
Das Essen war gut. Der Most zu süß. Und die Gespräche wollten nicht recht in Gang kommen. Frank mühte sich zwar. Aber seine Ticks und seine unübersehbare Anstrengung, höflich und interessiert zu wirken, verhinderten einen harmonischen Austausch. Niemand schien das zu merken. Aber Martha spürte, wie sich ihre Nerven spannten, die Muskeln im Nacken verzogen und im Bauch ein Gefühl entstand wie kurz vor dem Start mit einem Flugzeug, wenn die Triebwerke schon ihr infernalisches Geheul ausstoßen und das tonnenschwere Ding wild an den Bremsen zerrt.
Immerhin erfuhr sie zwischen seinen Fragen an sie und ihren Antworten ein wenig über ihn. Er hatte in ihrer Stadt ein ausgezeichnetes Abitur gemacht, war dann bei einem Schreiner in die Lehre gegangen – „um erst einmal mit den Händen zu arbeiten“, sagte er – und nach der erfolgreich abgelegten Prüfung und einem Studium der Informatik in das Auswahlverfahren für einen Traineejob bei einem bekannten Computerkonzern geraten. Auch hier hätten ihm anscheinend alle Wege zu einer Karriere offen gestanden, denn er war der beste
Weitere Kostenlose Bücher