Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Gartenzaun zu klettern? Sieh her, ich mach es dir vor. Das wird ein Abenteuer!«
3. Kapitel
Jacquelines Berichterstattung
Z ielstrebig wie ein Tausendfüßler, der einen Ast entlangklettert, kroch dieses unheimliche Gefühl an Jacquelines Wirbelsäule hoch.
Seinen Ursprung hatte es in ihrem Steißbein; plötzlich war es dagewesen, als hätte der Küchenstuhl unter Strom gestanden und ihr Körper wäre der elektrische Leiter.
Der Tausendfüßler raste nun nach oben, als ginge es um sein Leben.
Jacqueline sprang auf, Renés Hand glitt aus der ihren.
Doch es war bereits zu spät: Der Tausendfüßler wuselte stetig weiter.
Während der Impuls den Atlas erreichte, stand auch ihr Ehemann erschrocken auf und sah sie stirnrunzelnd an.
»Was ist?«
Seine Worte hörte sie nur undeutlich, denn der Tausendfüßler kam nun in ihrem Kopf an und biss herzhaft in die dortigen Nervenenden. Sie schloss die Augen.
Bruchstückhaft tauchte das Erlebnis von heute Morgen aus ihrer Erinnerung auf: das Brotmesser, die Blutflecken auf ihrer weißen Bluse, der zerbrochene Teller.
Sie spürte, dass ihr Gleichgewichtssinn versagte, und taumelte.
Konzentrier dich, Jacqueline!
Um nichts in der Welt wollte sie sich die Blöße geben, zuckend vor ihrem Mann zusammenzubrechen.
Die Qualen in ihrem Kopf erreichten einen kaum noch auszuhaltenden Höhepunkt.
Doch es gelang ihr, aufrecht und gerade stehenzubleiben, den Rücken durchgestreckt.
Ihr imaginärer Peiniger drehte den Stromregler eine Nuance nach unten.
Sie spürte den stützenden Arm ihres Mannes an ihrer Hüfte, und als sie die Augen öffnete, sah sie seinen besorgten Blick.
Allmählich drangen auch seine Worte durch die Barriere, die die Kopfschmerzen um ihr Gehör errichtet hatten. Renés Stimme schwoll an, bis sie wieder die gewohnte Lautstärke besaß.
»Jacqueline? Alles klar? Jacqueline?«
»Mein Kopf …«
»Schon wieder? Jacqueline? Hörst du mich?«
»Ja.«
»Jacqueline, du machst mir Angst.«
»Ich möchte mich gerne hinlegen.«
»Soll ich dich ins Schlafzimmer bringen?«
Erneut knabberte der Tausendfüßler an ihren Nervenspitzen. Mit einer Kopfbewegung deutete sie in Richtung des Wintergartens, der sich an die Wohnküche anschloss.
»In deinen Schaukelstuhl?«
»Ja. Ist näher.«
René geleitete sie hinüber und setzte sie behutsam auf das Bambusflechtwerk des Schaukelstuhls.
Ihre geliebten Blumenrabatten draußen im Garten nahm sie nur am Rande wahr. Wieder schloss sie die Augen und spürte gleich darauf, wie ihr René ein schmales Kissen in den Nacken schob.
Sie war der Meinung, sie hätte ein »Danke!« geflüstert, aber sie konnte keines hören.
»Der Schmerz scheint mir von Mal zu Mal intensiver zu werden.«
Jacqueline antwortete nicht. Aus weiter Ferne hörte sie, dass Lukas kam. Ihre Augenlider versagten den Dienst; sie verweigerten den Befehl, sich zu öffnen. Noch nicht einmal ihren Kopf vermochte sie zur Seite zu drehen. René verließ den Wintergarten, seine Schritte wurden leiser. Dann vernahm sie das Flüstern zweier Stimmen. Abgesehen von einzelnen Wortfetzen drang nichts zu ihr durch.
Mama … krank … Bilderbuch … Bärenfamilie … Abendessen.
Die beiden Personen entfernten sich wieder voneinander. Jacqueline hörte, dass sich die schwereren Schritte näherten.
»Jacqueline? Bist du wach?«, flüsterte René.
Sie versuchte zu nicken, wusste aber nicht, ob es ihr gelang.
»Ich löse dir ein Aspirin auf«, sagte ihr Mann und verschwand in die Wohnküche.
Als hätte eine Fee ihre Lider an unsichtbaren Fäden nach oben gezogen, sah sie plötzlich durch das grüne Buschwerk und die Glasscheiben hinaus in den Garten.
Sie zuckte zusammen.
Lungerte dort jemand herum?
Sie kniff die Augen zusammen: Wer oder was verursachte dort an der Kinderschaukel schemenhafte Bewegungen?
Hatte die unbekannte Frau aus der Friedrichstraße sie bis hierher nach Hause verfolgt?
»Ist da was?«, wollte René wissen.
Plötzlich saß er neben dem Schaukelstuhl auf einem der Terrassenklappstühle.
Und nun konnte sie auch wieder ihren Hals bewegen.
René sah genau zu der Stelle, an der sie die Bewegung wahrgenommen hatte.
»Ich sehe nichts«, gab er sich selbst die Antwort.
Seine Hand umfasste ein Glas, das eine trübe Flüssigkeit enthielt.
Er reichte es ihr und vergewisserte sich, dass sie Kraft genug hatte, es allein festzuhalten.
»Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen, Jacqueline.«
»Was meinst du?«
War das ihre eigene
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