Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Stimme gewesen?
So dünn? So zerbrechlich?
»Das sind nicht nur Kopfschmerzen.«
Sie sah ihn fragend an, während er nach weiteren Worten suchte.
»Sie kommen viel zu häufig. Und sie erscheinen aus dem Nichts.«
Jacqueline wollte nicht hören, was René ihr erzählte. Am liebsten hätte sie ihm den Mund zugehalten oder sich selbst die Finger in die Ohren gesteckt.
Doch dafür fehlte ihr die Kraft.
»Die Abstände dazwischen werden immer kürzer. Ich glaube nicht, dass Aspirin-Tabletten die Lösung bringen.«
Obwohl sie längst ahnte, was in seinem Kopf vorging, klebte sie an seinen Lippen und machte es ihm damit unendlich schwer.
»Vielleicht ist es nur die psychische Belastung.«
Sein Blick wurde flehentlich. Als wolle er sie bitten, die Dinge nicht selbst beim Namen nennen zu müssen. Jacqueline schwieg erbarmungslos weiter.
»Unser Hausbau. Lukas’ Einschulung. Die Haushaltsführung, bevor wir Ayse hatten. Dein rascher Aufstieg im Architekturbüro. Dein Stress wegen des Abgabetermins für das ›Le Mirage‹.«
Die fremde Frau, die mich verfolgt, ergänzte Jacqueline in Gedanken.
»Wahrscheinlich gibt dir dein Körper einfach Signale, dass du etwas kürzertreten solltest.«
»Dein Satz hört sich nach einem ›oder …‹ an«, flüsterte Jacqueline.
Ebenso leise sprach René weiter.
»Es könnte auch ein Tumor sein.«
Jacqueline schüttelte den Kopf.
»Alles ist möglich, Jacqueline, wir müssen alle Eventualitäten in Betracht ziehen.«
»Es gibt sicher eine einfache Erklärung. Ich glaube, die Kopfschmerzen lassen bereits nach. Und ich habe noch nicht einmal am Glas genippt.«
»Du wirst einen Arzt aufsuchen, Jacqueline. Du hast mir vorhin erzählt, du wärst mit deiner toten Mutter beim Shoppen gewesen. Dafür gibt es keine ›einfache Erklärung‹.«
Ach ja, erinnerte sie sich, ihre Mutter.
Auf einmal hatte sie das Gefühl, durch ihren Mann hindurchzusehen. Stattdessen tauchte die Parfümerie-Abteilung des Lafayette wieder vor ihr auf: Serious Alternate Afternoon.
Sollte sie sich das eingebildet haben?
Eigentlich hatte sie für sich behalten wollen, dass ihr heute zudem entfallen war, in welchem Stockwerk sie arbeitete. Auch dass sie sich nicht mehr an die neue Frisur von Annekatrin hatte erinnern können und daran, dass sie diese bereits vor vierzehn Tagen gelobt hatte.
Sie entschied sich dafür, die Karten auf den Tisch zu legen, und berichtete ihrem Mann von den Vorfällen – und auch von der Kopfschmerzattacke vom Vormittag.
Entsetzen machte sich in Renés Zügen breit. Als sie seinen Blick nicht mehr aushielt, fixierte sie die neben ihm stehende Bananenstaude und beendete ihre Erzählung.
Nach längerem Schweigen zog er sein Resümee: »Es gibt noch eine andere Erklärung.«
Bereits am Tonfall merkte sie, dass ihr die folgende Eröffnung noch weniger gefallen würde als die vorangegangenen.
Es vergingen einige unangenehme Sekunden, ehe sich die Worte über seine Lippen quälten.
»Onkel Gustav. Er hat ähnliche Symptome gezeigt.«
Jacquelines Magen krampfte sich zusammen, als wäre ihr eben bewusst geworden, dass sie mittags Gammelfleisch gegessen hatte; denn sie begriff sehr schnell, worauf ihr Mann hinauswollte.
»Gustav hatte Alzheimer.«
Sie spürte, dass sie sich die Hand vor den Mund hielt.
René nickte.
»Er war über achtzig, ich bin Ende dreißig«, widersprach Jacqueline und versuchte, sich zu beruhigen.
»Die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken, ist in unserem Alter lediglich geringer.«
»Ich habe doch keine Demenz.«
»Jacqueline, das behaupte ich doch gar nicht. Wir dürfen nur nichts ausschließen.«
Jacquelines Unterlippe schmerzte. Sie hatte sich eben darauf gebissen.
»Nur zur Sicherheit«, fuhr René fort. »Ich werde dir einen Arzt heraussuchen.«
»Nein«, wehrte sie ab.
Sie sah René flehentlich an, es ging ihr alles viel zu schnell.
Ehe er zu einer Entgegnung ansetzen konnte, flüsterte sie: »Bitte gib mir ein wenig Zeit.«
Schließlich kapitulierte er: »In Ordnung. Wie du magst.«
Er nahm ihre Hand und tätschelte sie.
Gleichzeitig blickte er auf das Glas in ihrer anderen Hand.
»Und jetzt trink schön deine Medizin.«
»Sofort, René. Lässt du mich für einen Augenblick allein? Ich brauche etwas Ruhe.«
»Klar doch. Ich schaue in ein paar Minuten noch mal nach dir.«
»Nichts ausschließen«, wiederholte sie leise und kippte die trübe Flüssigkeit in einen wuchtigen Blumentopf, aus dem ein stattlicher Ficus
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