Vater, Mutter, Tod (German Edition)
angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen. Damit entfällt die vorübergehende mündliche Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR beziehungsweise die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten. Die Passfrage kann ich jetzt nicht beantworten, das ist auch eine technische Frage, die Pässe müssen ja, also damit jeder im Besitz eines Passes … Also, die müssen ja erst mal ausgegeben werden.«
Günter Schabowski, Sekretär des ZK der SED für Informationswesen, erreichte Martin Manthey, Unterleutnant der Volkspolizei, nicht.
»Das tritt, nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.«
Manthey erkannte, dass er fortan die Kraft für zwei Personen aufbringen musste.
»Komm«, sagte er. »Ich bin bei dir.«
Mit einem tiefen Atemzug inhalierte er all die Stärke, die er benötigte, und half seiner Frau wieder auf die Beine.
»Also, doch, doch. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD – beziehungsweise Berlin-West – erfolgen.«
Dieses Mal wurde ihm Vera nicht wieder zu schwer und er geleitete sie den langen Flur entlang bis zum Treppenhaus. Den Pförtner im Erdgeschoss nahm er nur am Rande wahr. Es schien Manthey so, als habe ihm der Mann etwas sagen wollen, sich dann aber doch zurückgehalten. Vermutlich aus Rücksichtnahme auf den Zustand Veras.
Die trostlose Novemberstimmung eines trüben Tages hatte den Einbruch der Nacht überdauert. Manthey und seine Frau schlurften durch welkes Laub über den mäßig ausgeleuchteten Parkplatz des Potsdamer Klinikums Ernst von Bergmann.
Vorbei an einer Vielzahl von Trabants und Wartburgs erreichten Martin und Vera ihr eigenes Fahrzeug. Manthey öffnete die Beifahrertür des ockerfarbenen Wartburgs und half seiner Frau hinein.
Da seine Frau nicht in der Lage schien, sich anzugurten, erledigte er das für sie.
Dann quälte er sich selbst in den Wagen, nahm neben ihr Platz und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
Noch einmal drehte er sich zu Vera, deren Augen starr nach vorn gerichtet waren. Er folgte ihrem Blick. Durch Buschwerk und Bäume hindurch sah er Lichter aufblitzen.
Lichthupen, erkannte er.
Endlich drangen auch wieder Geräusche an sein Ohr.
Hupen; Tröten; lautes, fröhliches Lachen.
Dazu Sprechgesänge.
»Wir kommen wieder. Wir kommen wieder. Wir kommen wieder.«
Manthey startete seinen Wagen und fuhr seine Frau nach Hause.
22. Kapitel
Ein Tag vor der Katharsis;
nachts
O b im Augenblick des Todes tatsächlich noch einmal das komplette Leben wie in einem zeitgerafften Film am Sterbenden vorüberzieht?
Keiner, der die Erfahrung gemacht hat, hatte danach noch die Möglichkeit, davon zu erzählen.
Hinterbliebene dagegen erinnern sich.
Der Witwer streichelt behutsam mit den Fingern über die Parkbank, auf der er um die Hand seiner Liebsten angehalten hat; die Parkbank vor dem See, in dem sie sich nun, Jahre später, wegen ihrer Depressionen das Leben genommen hat.
Die Enkeltochter weiß noch genau, wie ihr der Großvater, der nun vor ihr auf dem Totenbett ruht, bei jedem Besuch als Erstes eine Tafel Schokolade in die Hand gedrückt hat.
Die Witwe spürt jedem der vielen Küsse nach, die ihr der Ehemann schenkte, ehe er mit dem PKW zur Arbeit aufbrach, bis hin zum letzten Kuss vor der letzten Autofahrt, bei der er durch den Zusammenprall mit einem Geisterfahrer den Tod gefunden hat.
Jacqueline Adam kämpfte gegen Jacqueline Hinz.
Sie wehrte sich gegen die Bilder, die in ihrem Geist aufstiegen, und gegen das eine reale, das vor ihr lag. Ein unsichtbares Drahtseil schien ihr zwischen den beiden Augenpaaren gespannt, so mitleidlos stramm, dass es ihr unmöglich war, den Blick abzuwenden.
Endlich gab Jacqueline Adam auf: Jacqueline Hinz siegte.
Jacquelines Hände, in Handschellen gefesselt, starr unter dem Tisch; ihre Körperhaltung leicht vornübergebeugt; außer flachem Atem keine Körperregung zeigend.
Sie glaubte nicht, dass die Polizistin ihr gegenüber die Veränderung wahrnahm, die sich in ihr vollzog.
Im stillen Kammerspiel zwischen dem toten Jungen und Jacqueline Hinz blieb die Polizistin hinter Block und Aufnahmegerät nur Statistin.
Und so zog Robins Leben zumindest an seiner Mutter wie ein Film vorbei.
Seine
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