Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Geburt vor über sieben Jahren mitsamt den vielen Schmerzen.
Der erste Zahn.
Wie Robin anfing zu krabbeln.
Wie er sich an den Knäufen der Schubladen festhielt, um aufrecht stehen zu können.
Seine ersten unbeholfenen Schritte.
Wie seine Lippen zum ersten Mal das Wort ›Mama‹ formten, und später ›Papa‹.
An die vielen Tränen erinnerte sich Jacqueline, als Robin zum ersten Mal im Kindergarten allein bleiben musste, an sein Schluchzen und Weinen, an sein Halten und Festklammern.
Der erste Schultag; Robin voller Stolz Schultasche und Schultüte tragend.
Doch der Film in Jacquelines Kopf blieb ein Kurzfilm. Der Regisseur hatte sich gegen ein Happy End entschieden.
Jacqueline wartete darauf, dass der tote Junge, dessen Abbild vor ihr auf der Tischfläche lag, sie anklagte. Er sollte mit ihr zu Gerichte ziehen. Sollte auf sie zurennen, mit seinen kleinen, geballten Fäusten auf sie einhämmern.
Er sollte ihrem Körper Schmerz zufügen, um sie abzulenken von dem Schmerz, der in ihrem Innern tobte.
Er sollte die Gelegenheit zu einem kleinen Stück Vergeltung erhalten, um ihr selbst eine gewisse Form der Absolution zu ermöglichen.
Robin blieb ihr diesen Gefallen schuldig.
Er starrte sie an und schwieg beharrlich.
Jacqueline Hinz begann zu weinen.
23. Kapitel
Ein Tag vor der Katharsis;
nachts
E ine weitere Strecke als die vom Klinikum bis zu uns nach Hause ist sie seither nicht mehr gefahren. Sie verlässt selten die Wohnung. Manchmal, wenn sie die Kraft dazu aufbringt, geht sie bis zum Zeitungskiosk – der ist nur zwei Wohnblocks weiter –, kauft dort eine Schlager Süßtafel für Kathleen und kehrt dann zurück. Sie legt die Schokolade auf den Küchentisch und setzt sich wieder aufs Sofa im Wohnzimmer.«
Manthey sah den Psychologen an. Rakowskis Gesichtsausdruck war so verdammt mitfühlend. Doch Manthey ignorierte es.
Mit wenigen Menschen hatte er in den vergangenen Jahren über sein Privatleben oder gar über seine Frau gesprochen. Heute war ihm sogar egal gewesen, dass Schultheiss mit im Raum stand und nun all dies über ihn wusste.
Schultheiss verhielt sich ruhig, stand einfach nur da.
Es hatte einfach aus Manthey herausgedrängt. Rakowski mit all seinen Forderungen nach Verständnis für Jacquelines Schicksal. Seine Anteilnahme, seine Parteilichkeit, seine Scheuklappen-Mentalität.
Ein jeder hatte sein Päckchen zu tragen; Jacqueline Hinz war in großer Gesellschaft.
Manthey und seine Frau mussten mit der eigenen Geschichte leben, Jacqueline Hinz mit der ihren.
Doch für Paula Adam war die Geschichte noch nicht zu Ende geschrieben.
Darum ging es Manthey.
»Der Fall der Mauer ist mehr als zwanzig Jahre her«, durchbrach Rakowski das Schweigen.
Manthey nickte.
»Wie haben Sie das so lange durchgestanden?«, fragte Rakowski.
»Ich glaube, Sie kennen die Antwort.«
Rakowskis Augen bejahten.
Manthey hatte gesagt, was er hatte sagen wollen.
Die Gegenwart hatte ihn wieder eingeholt, und er riss die Initiative an sich.
»Irgendwo da draußen ist ein Junge. Solange wir nichts Anderweitiges in Erfahrung bringen, gehe ich davon aus, dass er noch am Leben ist. Vermutlich ist Thorsten Hinz bei ihm und hält ihn gefangen. Nur wo, das ist die Frage.«
Manthey erhob sich.
»Jacqueline Hinz ist die einzige Person, die diese Frage beantworten kann.«
Rakowski stand nun ebenfalls auf.
»Darf ich Sie begleiten?«
»Die oberste Priorität hat, Paula Adam das Schicksal Jacquelines zu ersparen.«
Manthey war klar, dass er ›Vera‹ meinte, wenn er ›Jacqueline‹ sagte. Und er wusste, dass Rakowski dies ebenfalls klar sein musste.
»Das hat die oberste Priorität«, bestätigte der Psychologe.
Manthey wandte sich an seinen Kollegen: »Bringen Sie Herrn Rakowski bitte einen Stuhl ins Vernehmungszimmer.«
Schultheiss schnappte sich einen Stuhl und trug ihn hinter den beiden her.
Als Manthey den Raum betrat, erkannte er die Veränderung sofort.
Der vormals starre Körper Jacquelines wippte nun sacht hin und her, ihre Augen immer noch auf das Foto gerichtet.
Im Blick der Polizistin sah er Erleichterung darüber, dass er zurückgekehrt war.
Während er Platz nahm, entdeckte er Feuchtigkeit auf der Oberfläche des Bildes und darin Reflektionen des Oberlichts.
Leise stellte Schultheiss den Stuhl an den Tisch und verließ den Raum.
Rakowski setzte sich.
Ehe Manthey etwas sagen konnte, hob Jacqueline ihren Kopf.
Sie musterte ihn und Rakowski, als vergliche sie die beiden. In ihren
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