Vater, Mutter, Tod (German Edition)
zusammenhanglos stellte er Rakowski eine Frage: »Wissen Sie noch, was Sie am 9. November 1989 gemacht haben?«
Rakowski sah ihn verwirrt an.
»Klar weiß ich das. Jeder Deutsche weiß noch, was er am 9. November 1989 gemacht hat.«
21. Kapitel
9. November 1989
A us dem Gesicht des Mädchens war längst jegliche Farbe gewichen. Blutleer und wächsern wirkte es nun. Kein einziges der einstmals langen, brünetten Haare zierte mehr seinen Kopf.
Die Mimik, in den letzten Wochen und Monaten meist bitteres Spiegelbild der Qualen des abgemagerten Mädchens, zeugte jetzt von Schmerzfreiheit, Entspannung und Frieden.
Die Bettdecke bewegte sich nicht mehr auf und ab, keine Atmung mehr darunter.
Seine Lider zu schließen war der letzte Kraftakt des Mädchens gewesen.
Kathleen Manthey war tot, gestorben im Alter von vier Jahren an Leukämie.
Kathleen Manthey, sanft entschlafen vor über zwei Stunden.
Ihre Eltern, Martin und Vera, saßen immer noch unverändert auf Krankenhausstühlen zu beiden Seiten des kleinen Bettes. Sowohl Martin als auch Vera hielten eine der kalten Mädchenhände. Bis zum letzten Augenblick hatte das Ehepaar der Tochter Trost und Zuversicht gespendet, ihr gezeigt, dass sie bei ihr waren.
Martin Manthey ließ los. Sanft bettete er die zierliche Hand auf die Zudecke, dann zog er seine eigenen Hände in seinen Schoß zurück, legte sie wie zum Gebet zusammen, verharrte.
Doch er betete nicht; den Glauben an einen Gott oder an eine himmlische Gerechtigkeit hatte er nie entwickelt.
Manthey wandte den Blick von seiner Tochter ab und ließ ihn zu seiner Frau wandern. Veras Tränen waren längst versiegt. Stumm und liebevoll betrachtete sie Kathleens Gesicht. Gerade so, als erhoffe sie sich, das Leben würde zurückkehren, Kathleen würde einfach wieder die Augen aufschlagen und ihre Mutter anlächeln.
Kathleens heiteres, unbeschwertes Lachen klang nach in Manthey. In den letzten Tagen hatte er es nicht mehr gehört, und es würde nie wieder zurückkehren.
Die Stuhlbeine, die sonst unangenehm quietschend über den Zimmerboden schabten, blieben stumm, als Manthey sich vorsichtig erhob.
Auf leisen Sohlen schritt er zu seiner Frau und legte ihr seine Linke auf die Schulter.
Vera reagierte nicht.
»Es ist vorbei«, flüsterte er.
Nicht der Ansatz einer Bewegung ging durch seine Frau.
So sank er vor ihr auf die Knie, hob seine Hand und strich ihr zärtlich über die Wange. Obwohl sie ihre Pupillen nur um einen Millimeter hätte bewegen müssen, blieben ihre Augen stur auf Kathleen gerichtet.
»Du musst sie loslassen«, sagte er leise.
Er drehte sich zum Bett, griff nach den Händen seiner Frau und löste sie sanft von der Hand seiner Tochter.
Vera schluchzte einmal laut auf, danach schwieg sie wieder.
Sie wehrte sich nicht gegen ihren Mann. Auch nicht, als er sie hochzog und auf die Füße stellte. Er legte einen Arm um ihre Hüfte und drehte sie weg vom Krankenbett. Sie versuchte, einen letzten Blick auf Kathleen zu erhaschen, doch Manthey nahm ihr Kinn und bewegte ihren Kopf sachte, aber resolut in Richtung der Tür.
Er führte Vera hindurch, und die beiden erreichten den Krankenhausflur.
Die Tür des benachbarten Schwesternzimmers stand einen Spaltbreit offen.
Vera sackte in Martins Arm zusammen. Während die Muskeln seiner Frau versagten, vernahm Manthey eine Stimme aus dem Schwesternzimmer.
Sie klang künstlich und es rauschte: ein Radio, oder ein Fernseher.
Nur Mantheys Unterbewusstsein nahm die Stimme wahr.
»… allerdings ist heute, soviel ich weiß, eine Entscheidung getroffen worden, es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, dass man aus dem Entwurf des Reisegesetzes den Passus herausnimmt und in Kraft treten lässt, der, wie man so schön sagt, oder so unschön sagt, also die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik.«
Manthey, selbst geschwächt, gelang es nicht, seine Frau weiter auf den Beinen zu halten. Zwischen ihm und der Wand des Flurs glitt sie langsam, durch Manthey gestützt, zu Boden. Mit dem Rücken zur Wand und ausgestreckten Beinen blieb sie sitzen. Manthey bückte sich hinab und sah ihr in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick nicht.
»Also Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden, die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt, zuständige Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizei-Kreisämter in der DDR sind
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