Vater, Mutter, Tod (German Edition)
er die zwei Glastüren, die in den benachbarten Trakt führten, in dem sein Büro untergebracht war. Rakowskis lautstarkes Schimpfen ignorierte er.
Er trat ein, ließ die Tür offen stehen und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
Auf seiner Schreibunterlage lag der Haftbefehl. Er hielt ihn dem wütenden Psychologen unter die Nase.
»Sie wissen, wo Sie sich befinden?«, fragte er süffisant.
»Was soll die Frage?«
»Polizeiwache Potsdam-Mitte.«
»Ja. Und?«
»Dies ist mein Reich. Und solange Sie sich in diesem Gebäude aufhalten, gelten meine Spielregeln. Wir befinden uns nicht auf ›Bonnies Ranch‹.«
Die im Volksmund übliche Bezeichnung der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik hatte gesessen. Sie musste beleidigend gewirkt haben auf den ehrgeizigen Psychologen. Er wirkte ausgebremst, schluckte eine Entgegnung hinunter.
»Lesen Sie es sich ruhig durch.«
Manthey sah hinüber zu Schultheiss und deutete auf einen in der Nähe befindlichen Bürostuhl. Schultheiss verstand und rollte den Stuhl zu Rakowski, der Platz nahm, während er weiterlas.
»Beantragt von Frau Karin Schaplau von der Staatsanwaltschaft Potsdam und richterlich erlassen.«
Mit Karin Schaplau hatte er bereits zu DDR -Zeiten hervorragend zusammengearbeitet. Sie hatten sich im Laufe der Jahre – sowohl vor als auch nach der Wende – in vielen Fällen wechselseitig geholfen. Das verkürzte die langen, bürokratischen Dienstwege, wenn es einmal schnell gehen musste.
»Scheint korrekt zu sein«, gab Rakowski zu.
»Holen Sie ihm bitte einen Kaffee, Schultheiss.«
Schultheiss nickte und ging nach draußen.
»Zu Ihnen, Herr Psychologe. Ich erwarte, dass Sie sich mir gegenüber angemessen verhalten. Sowohl hier auf der Wache als auch anderswo.«
Manthey war klar, dass er sich selbst ganz und gar nicht an solche Gepflogenheiten hielt. Den Psychologen hatte er in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik mehrfach vor dem Krankenhauspersonal und sogar vor Patienten zusammengestaucht.
Rakowski senkte den Kopf. Er schien viel zu perplex darüber, dass es Manthey gelungen war, in solch kurzer Zeit einen Haftbefehl zu erwirken, als dass er den Widerspruch in Mantheys Forderung erkannt hätte.
Manthey kannte die Vorgehensweisen, Zuckerbrot und Peitsche, good cop – bad cop, und wie sie alle hießen. Und er wusste, mit welcher er den gewünschten Erfolg erzielte.
Über dreißig Jahre Polizeidienst ließen einen ebenfalls zum Psychologen werden.
»Sie hatten mehr als vier Tage Zeit, um herauszufinden, wo der entführte Junge ist«, sagte er sanft.
Im gleichen Tonfall antwortete Rakowski: »Ja, ich weiß.«
Es klang demütig.
»Erzählen Sie mir bitte, zu welchem Ergebnis Sie gelangt sind.«
Rakowski sah auf. Er schien nun viel ruhiger zu atmen, sein Gesicht hatte wieder die normale Farbe angenommen.
»Der Fall ist äußerst diffizil.«
Manthey blickte ihm auffordernd in die Augen.
»Jacqueline, ich meine Frau Hinz, leidet – einhergehend mit einer posttraumatischen Belastungsstörung – an anhaltenden wahnhaften Störungen, ausgelöst durch den Tod ihres Sohnes, so meine Diagnose.«
»Hört sich an wie Ihr Bericht an die AOK . Erklären Sie es mir in ein paar einfachen Sätzen.«
Rakowski suchte nach Worten.
»Robins schrecklicher Tod hat für Frau Hinz eine Kette von Ereignissen losgetreten. Während sie einerseits Robins Tod verdrängt, flüchtet sie andererseits in ihr angenehmere Phantasiewelten. Diese nehmen immer stärker ihre Realität und ihre Wahrnehmung ein. Trifft sie auf eine Ungereimtheit, so biegt sie sich das vermeintlich Erlebte so lange zurecht, bis es wieder in ihr Weltbild passt.«
Einen Pappbecher, aus dem es dampfte, vor sich hertragend, kehrte Schultheiss ins Büro zurück. Rakowski nahm den Kaffee dankend an.
»Ein Beispiel?«, bat Manthey.
Nach einem kurzen Nippen stellte Rakowski den Becher auf den Schreibtisch.
»Frau Hinz erzählte mir, dass sie mit ihrer Mutter im Lafayette beim Einkaufen gewesen sei und dass sie dies abends ihrem Mann – in ihrer Wahrnehmung ›René‹ – erzählt habe. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich schon, dass ihre Mutter bereits vor zwei Jahren gestorben war. Behutsam machte ich sie darauf aufmerksam. Schließlich wollte ich sie nach und nach in die Realität zurückholen.«
»Was passierte dann?«
»Es gelang mir, sie davon zu überzeugen, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Als sie die Geschichte am nächsten Tag wiederholte, war es René, der Zweifel an der Shoppingtour
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