Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Augen der Wunsch nach Erlösung.
Schließlich begann sie zu erzählen.
Die Polizistin drückte hastig die Aufnahmetaste.
24. Kapitel
Sieben Tage vor der Katharsis;
spätnachmittags
J eder Mensch entwickelt Rituale. Beim Verlassen der Wohnung oder des Hauses beispielsweise.
Der eine kontrolliert sorgfältig, ob der Gasherd auch bestimmt ausgeschaltet ist und alle Wasserhähne zugedreht sind; der andere vergewissert sich mit einem Klopfen auf die Hosentasche, dass er auch wirklich den Wohnungsschlüssel eingesteckt hat; der dritte wiederum rüttelt zwei-, dreimal sanft an der Tür, um sicherzustellen, dass sie auch tatsächlich geschlossen ist.
Die meisten Menschen sind sich ihrer Rituale noch nicht einmal mehr bewusst.
Jacqueline Hinz öffnete beim Verlassen des Hauses stets den Briefkasten, der im Eingangsbereich des Neuköllner Hochhauses zwischen einer Vielzahl verbeulter und verschmierter anderer hing.
So auch heute. Mit einem raschen Blick überprüfte sie den Absender auf dem Kuvert, das sie herausfischte: Gebühreneinzugszentrale.
Konnte ja nur eine Rechnung oder eine Mahnung sein.
Sie steckte den ungeöffneten Brief achtlos in ihre Handtasche.
Strammen Schritts marschierte sie zur U-Bahn-Station. Eine gute Stunde später erreichte sie mit dem Bus Kleinmachnow.
Von Frau Pozzuoli hatte sie sich telefonisch den Weg von der Bushaltestelle bis zum Haus genauestens erklären lassen. So dauerte es nur wenige Minuten, bis sie vor der Tür stand und klingelte.
Auf dem Fußabstreifer las sie ›Home, sweet home‹.
Eine extrem übergewichtige Frau öffnete, die Haare schwarz und kinnlang, das Gesicht auffällig geschminkt. Die Augen der etwa Fünfzigjährigen funkelten freundlich.
»Sie müssen Frau Hinz sein«, empfing sie die Besucherin lächelnd, ehe Jacqueline das Wort ergreifen konnte.
Jacqueline nickte. »Guten Tag.«
»Sehr erfreut«, erwiderte die Hausherrin. »Mein Name ist Angela Pozzuoli, wir hatten telefoniert. Haben Sie gut hergefunden?«
Frau Pozzuoli streckte Jacqueline die Hand entgegen. Als Jacqueline sie ergriff, war sie überrascht über die Intensität des Händedrucks.
»Ja, Sie haben den Weg wunderbar beschrieben.«
»Kommen Sie herein.«
Frau Pozzuoli trat zur Seite, aber Jacqueline gelang es nicht, an ihr vorbeizukommen, ohne ihren Bauch zu streifen. Frau Pozzuoli ignorierte die Berührung.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
»Oh, gerne, vielen Dank.«
Doch Jacqueline besann sich. Sie dachte an die Unberechenbarkeit ihres Ehemanns und daran, dass ihr Robin sich mit ihm allein zu Hause aufhielt.
»Nein, besser doch nicht. Ich muss möglichst rasch wieder zurück.«
»Verstehe. Dann zeige ich Ihnen am besten gleich das Haus. Damit Sie einen Eindruck davon haben, was an Arbeit auf Sie zukommt.«
Von wegen Italiener. Jacqueline hörte nicht den Hauch eines Akzents. Sie glaubte eher, einen sächsischen Einschlag wahrzunehmen.
Ein leichtes Ächzen begleitete jede Bewegung Frau Pozzuolis.
»Ich würde eigentlich alles selbst putzen«, rechtfertigte sie sich, während sie vor ihr herwalzte, »aber Sie sehen ja selbst …«
Die Hausherrin spielte auf ihre Leibesfülle an.
»Die Drüsen«, erläuterte Frau Pozzuoli, »es sind die Drüsen. Das ist bei mir schon als kleines Mädchen losgegangen.«
Alles klar, dachte Jacqueline, die Drüsen.
»Meinem Mann ist’s zum Glück egal. Er mag es, wenn er was in den Händen hat, sagt er immer. So, das ist das Badezimmer. Genau darüber ist ein weiteres, gleicher Grundriss. Das obere muss nicht jedes Mal geputzt werden. Wir benutzen es selten.«
Gleich darauf öffnete sie die Tür daneben. »Toilette«, kommentierte sie.
»Sieht alles sehr sauber aus.«
»Ja, Petra, unser letztes Mädchen war sehr ordentlich.«
Jacqueline zuckte kurz zusammen. Sie bezog die Titulierung sofort auf sich. Es war lange her, dass jemand sie als ›Mädchen‹ bezeichnet hatte. Schließlich ging sie inzwischen deutlich auf die vierzig zu.
»Leider ist sie nun zu ihrem Verlobten nach Duisburg gezogen. Vorgestern hat sie hier noch einmal alles auf Vordermann gebracht.«
Frau Pozzuoli führte sie weiter.
»Und das hier ist die Küche. Ich koche für mein Leben gern.«
Das hatte Jacqueline bereits vermutet.
»Entsprechend sieht meine Küche hinterher aus. Dass alles immer wieder blitzt und glänzt, darauf lege ich großen Wert, Jacqueline. Ich darf doch ›Jacqueline‹ sagen, ja?«
Obwohl Jacqueline dies überhaupt nicht behagte, hob
Weitere Kostenlose Bücher