Vater, Mutter, Tod (German Edition)
den Keller des Hauses. In die Kellertür war eine quadratische Milchglasscheibe mit einer Seitenlänge von etwa vierzig Zentimetern eingelassen. Aus der Einfassung eines vernachlässigten Blumenbeetes nahm Thorsten einen faustgroßen, spitz zulaufenden Stein. Mit einem Blick zum Nachbargrundstück vergewisserte er sich, dass ihn niemand beobachtete, dann schlug er den Stein gegen die Scheibe.
Auch nach dem lauten Klirren regte sich nichts in der Umgebung; keine neugierigen Blicke; kein besorgter Nachbar, der auf die Eindringlinge aufmerksam wurde.
Thorsten fluchte.
Beim Griff durch das Loch hatte er sich an einem Splitter den Handrücken aufgeritzt. Doch als er die Hand wieder herauszog, hielt er tatsächlich den Kellerschlüssel in den Fingern.
»Schwein gehabt«, triumphierte er.
Das Blut, das von seiner Hand tropfte, ignorierte er.
Er steckte den Schlüssel von außen ins Schloss und öffnete die Tür.
Sie untersuchten die unteren Räume. Es roch muffig. Für Durchzug hatte anscheinend schon länger niemand mehr gesorgt. Auch als sie ins Erdgeschoss hochstiegen, wurde die Luft nicht besser.
»Wir sollten die Fenster erst öffnen, wenn es ganz dunkel ist«, meinte Thorsten. »Sonst merkt noch einer, dass wir hier drin sind.«
»Auf keinen Fall darfst du dich am Fenster zeigen«, instruierte Jacqueline Lukas.
Lukas nickte ängstlich.
»Es ist besser, wir bringen Robin im Keller unter.«
Der Name ›Robin‹ verursachte in Jacqueline einen stechenden Schmerz. Gleichzeitig wurde Renés Gesicht für einen kurzen Moment zu dem eines Fremden, den sie früher als ›Thorsten‹ gekannt hatte. ›Lukas‹, verbesserte sie René in Gedanken.
»Ja, du hast recht.«
»Der Raum mit dem alten Sofa. Das Kellerfenster war vergittert.«
Jacqueline nickte.
»Ich möchte aber nicht in den Keller.«
Lukas verschränkte die Arme vor der Brust. Tapfer verdrängte er die erneut aufsteigenden Tränen.
»Du tust, was ich dir sage, Kleiner.«
Thorstens Ton war scharf, duldete keinen Widerspruch.
»Es ist ja nur für kurze Zeit«, versuchte Jacqueline den Jungen zu beruhigen.
»Ich will zu meiner Mama.«
»Pscht.« Jacqueline ging in die Knie, umarmte ihn und drückte ihn fest an sich. »Ich bin doch bei dir.«
Sie spürte nicht, dass Lukas auf ihre Zuwendung nicht reagierte. Wie eine Puppe stand er da, ließ Jacquelines Berührung teilnahmslos über sich ergehen.
Dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zurück in den Keller. Sie hörte, dass Thorsten folgte. Vor dem Zimmer mit dem Sofa hielt sie an. Vor ihren Augen verwandelte sich der dunkle Kellerraum mit dem kleinen Gitterfenster in Lukas’ Kinderzimmer aus Kleinmachnow: die bunte Tapete mit den Comicfiguren, das SpongeBob-Poster über dem Bett aus massivem Kiefernholz.
Sie wusste, dass Lukas sich hier wohl fühlen würde.
Warum er sich schreiend mit seinen Händen am Türrahmen festklammerte, verstand sie nicht.
Mit Gewalt löste Thorsten Lukas’ Finger.
Lukas brüllte laut auf.
Ehe Jacqueline sich’s versah, verpasste Thorsten dem Jungen eine weitere Ohrfeige.
Lukas fiel in den Raum hinein und landete auf seinem Hintern.
Geschockt und vorwurfsvoll sah er die beiden an.
Thorsten warf ihm den roten Kinderkoffer hinterher, den der Junge hatte fallen lassen, danach schloss er die Tür und sperrte sie ab.
»Wir bringen dir nachher etwas zu essen, Kleiner«, sagte er, laut genug, damit Lukas es hören konnte. »Aber nur, wenn du brav bist.«
Zum zweiten Mal stiegen sie die Treppe nach oben.
Kühlschrank und Herd, die sie in der Küche vorfanden, waren ältere Modelle, doch funktionstüchtig, wie Thorsten feststellte.
Das Wohnzimmer war über und über mit wertlosem Nippes vollgestellt.
»Wenn es hier nur nicht überall so nach alten Menschen stinken würde«, meinte Thorsten.
Da es inzwischen dämmerte, riskierte er, ein Fenster zu kippen.
Während Thorsten das Sofa von alten, zerschlissenen Plüschtieren befreite und sich setzte, erkundete Jacqueline das Haus.
Bereits auf der Treppe nach oben hörte sie, dass Thorsten den Fernseher eingeschaltet hatte.
Im ersten Stock stieß sie auf zwei kleinere Räume, deren Türen kaum zu öffnen waren, so viel Gerümpel stand dahinter.
Die nächste Tür führte in ein großes Schlafzimmer. Sie testete das Bett und legte sich hinein.
Endlich Ruhe. Endlich angekommen.
Langsam entledigte sie sich ihrer Kleidung und schob sie über die Bettkante. Mehrere Minuten lang starrte sie einfach zur Decke, dann
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