Vater unser
sich Anklage und Verteidigung am Ende auf zwölf Personen, die zumindest behaupteten, dass sie sich noch keine Meinung zu dem Fall gebildet hätten und ein Urteil nur anhand dessen fällen würden, was sie im Gerichtssaal hörten. Am Ende waren es drei Männer und neun Frauen. Sechs Weiße, vier Schwarze und zwei Amerikaner hispanischer Abstammung. Ihre Berufe reichten von einem pensionierten Universitätsprofessor bis zu einem ehemaligen Prediger der Vereinigung Cowboys für Christus.
« Wir haben vorhin den letzten Geschworenen ausgewählt», berichtete Julia Lat am Telefon und unterdrückte ein Gähnen.
« Farley hat sie alle vor einer Stunde vereidigt.»
« Ich hab’s eben in den Nachrichten gesehen. Sie klingen müde, Julia.»
« Es war eine anstrengende Woche. Wo sind Sie gerade?»
« Ich sitze mit Brill im Alibi.» Die Alibi Lounge war eine bei Polizisten, Staatsanwälten, Richtern und Verteidigern gleichermaßen beliebte Kneipe und praktischerweise nur einen Häuserblock von dem Gerichtsgebäude, dem Graham Building und den Büros der Pflichtverteidiger entfernt.
« Rick möchte noch einmal Ihre Aussage für Dienstag durchgehen. Ich glaube, er will Sie nach Pete Colonna und Sergeant Demos in den Zeugenstand rufen. Können Sie herkommen?»
« Es ist Freitagabend, halb sieben. Ich habe Feierabend. Wenn Rick etwas von mir will, soll er hierherkommen. Er kann gern mit mir über meine Aussage sprechen, während ich ein kühles Bier genieße und mir die NCAA-Finals ansehe.» Lats Stimme wurde ein bisschen weicher.
« Kommen Sie doch auch vorbei, Julia. Sie haben in letzter Zeit so viel gearbeitet – viel zu viel, wenn Sie mich fragen. Rick gönnt Ihnen ja kaum eine Pause, und außerdem» – er zögerte, suchte offenbar nach einer geeigneten Formulierung –
« können Sie nicht auf andere aufpassen, wenn Sie nicht auf sich selbst aufpassen. Hat Ihre Mutter Ihnen das nicht beigebracht?» Julia spürte einen Stich in der Magengrube und ignorierte die Frage. Lat hatte recht – sie war müde und gestresst. Sie hatte einige Kilo abgenommen, sodass ihre Kleidung nicht mehr richtig saß. Außerdem hatten sie und Rick seit Montag kaum miteinander gesprochen, noch nicht einmal vor Gericht. Sie war in einigen Fällen nicht mit seiner Wahl der Geschworenen einverstanden gewesen, doch das hatte ihn anscheinend überhaupt nicht interessiert. Und die nächste Woche würde mit Sicherheit noch anstrengender werden. So hatte sie sich ihren Mordprozess nicht vorgestellt.
« Dann kommen wir vielleicht gleich noch vorbei», sagte sie seufzend. Womöglich würden ein oder zwei Drinks dazu beitragen, die Spannung etwas abzubauen, und außerdem war das allemal besser, als wieder bis zehn Uhr allein im Büro zu sitzen. Moose guckte sie bereits schief an, und sie würde bald einen Kredit aufnehmen müssen, um die Tagesbetreuung bezahlen zu können, aus der leider allzu oft auch eine Übernachtungsbetreuung wurde, weil sie es nicht schaffte, ihn rechtzeitig abzuholen.
« Die erste Runde geht auf mich», erwiderte Lat.
« Bis gleich.»
« Okay, aber ich muss hier erst noch ein paar Dinge erledigen», sagte Julia. Sie legte auf und knabberte für einen Moment nachdenklich an ihrem Bleistift. Sie gestand es sich nur ungern ein, aber sie vertraute Rick nicht mehr. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, was er mit der Wahrheit anstellte, wenn es um seinen eigenen Vorteil ging. Vielleicht war David Marquette tatsächlich ein Monster. Vielleicht war das offensichtlich, und sie war die Einzige, die es nicht einsehen wollte oder konnte. Aber sie musste die belastenden Fakten selbst vor Augen haben, anstatt sie von jemandem präsentiert zu bekommen, der irgendwelche undurchschaubaren Pläne verfolgte. Daher hatte sie in einigen Datenbanken eine Suchanfrage laufen lassen, und die Ausdrucke lagen nun vor ihr auf dem Schreibtisch. Die Mappe enthielt eine Aufstellung aller Morde, die in den letzten fünf Jahren in Florida in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch oder versuchtem sexuellen Missbrauch begangen worden waren. Insgesamt handelte es sich um vierhundertsiebenundachtzig Fälle. Davon waren zweiundsiebzig ungeklärt und daher detailliert beschrieben. Die meisten der ungeklärten Fälle hatten mit Prostitution, Drogen oder beidem zu tun, doch siebzehn von ihnen stimmten mit den Suchparametern überein, die Julia angegeben hatte. Dazu gehörten die Morde an den Familien Tebin und Dell. Aber es gab noch eine weitere Ermittlungsakte, die Julias
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