Vater unser
Posten des Generalstaatsanwalts gefährdet? Oder soll dir eine Verurteilung im Fall Marquette die entscheidenden Stimmen einbringen? Ach ja, ehe ich es vergesse: meinen Glückwunsch.» Rick starrte sie mit kalter, gleichgültiger Miene an, als wäre sie eine Fremde. Julia erschauerte und fragte sich, ob er sich überhaupt daran erinnerte, dass er noch vor wenigen Stunden mit ihr geschlafen hatte.
« Julia, wenn du mit all dem nicht klarkommst, dann solltest du besser aussteigen.» Für eine Weile sagte sie nichts. Von überall her stürmten Gedanken auf sie ein und drohten, miteinander zu kollidieren wie fehlgeleitete Flugzeuge. Vielleicht hatte Rick ja recht. Vielleicht sollte sie tatsächlich besser aussteigen. Vielleicht war es an der Zeit, alles hinter sich zu lassen. Nach New York zurückzugehen, sich einen neuen Job zu suchen, ein neues Leben aufzubauen. Sie konnte sich beruflich auf Steuerrecht und Zivilprozesse konzentrieren, oder auch etwas ganz anderes machen, kellnern zum Beispiel wie zu Collegezeiten. Ein schönes, stressfreies, einfaches Leben. Sie wäre dann in Andrews Nähe und konnte ihn eines Tages, wenn es ihm besserging, zu sich holen. Sie sah an Rick vorbei auf die Skyline von Miami. Die verspiegelten Fenster der Wolkenkratzer funkelten im Sonnenschein wie Diamanten. Vielleicht lag ihre Zukunft ohnehin nicht in Miami. Tante Nora und Onkel Jimmy würden Andrew niemals akzeptieren. Sie akzeptierten ja nicht mal die Tatsache, dass Julia Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Tante Nora ging immer noch nicht ans Telefon. Es hatte sich einfach alles verändert. Vierzehn Jahre lang waren Nora und Jimmy wie Eltern für sie gewesen. Und obwohl Julia noch wütend auf die beiden war, weil sie sie jahrelang über ihren Bruder belogen und den Kontakt zu ihm verhindert hatten, wollte sie doch gleichzeitig, dass alles wieder so war wie früher. Aber es gab zu viele Geheimnisse, zu viele Lügen, die sie hätte umschiffen müssen. Außerdem war Andrew wieder ein Teil ihres Lebens. Julia konnte sich die Zukunft nicht mehr ohne ihren Bruder vorstellen, für Nora hingegen gab es keine Zukunft mit ihm. Jimmy versuchte wie immer, die beschwichtigende Stimme der Vernunft zu sein, doch letzten Endes, das wusste Julia, würde er immer zu Nora halten. Julia starrte auf das Messingschild auf Ricks Schreibtisch. Ricardo A. Bellido, Staatsanwalt, Esq. Vor Wochen hatte sie in einem Augenblick des Glücks den Namen Bellido einmal laut nach ihrem eigenen ausgesprochen, nur um zu hören, wie das klang. Erstaunlich, dass das Leben innerhalb kurzer Zeit eine komplette Kehrtwendung machen konnte. Im Grunde ihres Herzens wusste Julia, dass die Beziehung mit Rick vorbei war. Unter Ricks kaltem, gefühllosem Blick kam sie sich auf einmal naiv und dumm vor. Am liebsten hätte sie sich eingeredet, dass sie beide nur gemeinsam diese harte Zeit überwinden mussten. Doch sie wusste instinktiv, dass das nicht stimmte. In dem Moment schoss ihr wieder der Gedanke durch den Kopf, vor dem sie nicht weglaufen konnte – das hatte die vorangegangene Nacht endgültig unter Beweis gestellt. Was, wenn Marquette wirklich unzurechnungsfähig ist? Was, wenn wir falsch liegen? Es war nicht ihre Aufgabe, die Verteidigerin zu spielen, aber sie wollte auch nicht um jeden Preis gewinnen wie die anderen Mitglieder ihrer Mannschaft. Dieser Fall geriet langsam außer Kontrolle. Niemand hielt sich mehr an die Regeln, jedem ging es nur um den eigenen Vorteil. Der Schraubstock drehte sich immer fester zu. Die Entscheidung lag bei ihr. Wenn sie jetzt aus dem Fall ausstieg, würde das Fragen aufwerfen, die Rick in einem Wahljahr bestimmt nicht gern würde beantworten wollen. Jegliche Differenzen innerhalb der Staatsanwaltschaft wären ein PRAlbtraum, aus dem Levenson mit Sicherheit seinen Vorteil ziehen würde. Wenn zudem an die Öffentlichkeit drang, dass Rick ein Verhältnis mit seiner zweiten Anwältin angefangen hatte, käme das einem politischen Selbstmord gleich. Julia schüttelte den Kopf und wischte sich verstohlen eine Träne fort.
« Nein, ich komme schon klar. Ich mache weiter», sagte sie und war nicht sicher, ob sie damit den Fall oder ihre Beziehung meinte. Dann stand sie auf, verließ wortlos Ricks Büro und machte sich auf den Rückweg zum Gericht.
KAPITEL 75
D IE AUSWAHL der Geschworenen dauerte fünf Tage. Wie Levenson vorausgesagt hatte, war es unmöglich, zwölf Personen zu finden, denen der Name David Marquette noch kein Begriff war. Daher einigten
Weitere Kostenlose Bücher