Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vaterland

Vaterland

Titel: Vaterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
und blubbe r te aus den Nasenlöchern. »Rigor mortis ziemlich fortg e schritten. Zwöl f Stunden tot. Vielleicht weniger.«
    Er zog seinen Handschuh wieder an.
    Ein Dieselmotor ratterte irgendwo hinter ihnen durch die Bäume.
    »Der Krankenwagen«, sagte Ratka. »Die lassen sich Zeit.«
    März winkte Speidel zu sich. »Machen Sie noch eine Aufnahme.«
    März blickte auf die Leiche hinab und zündete sich eine Zigarette an. Dann hockte er sich hin und starrte in das ei n zige offene Auge.
    So blieb er eine lange Zeit. Wieder blitzte die Kamera.
    Der Schwan bäumte sich auf, schlug mit den Schwingen und kehrte auf der Suche nach Nahrung in die Mitte des Sees zurück.

ZWEI
    Das Kripo-Hauptquartier liegt auf der anderen Seite B e rlins, eine Fünfundzwanzig-Minuten-Fahrt von der Havel aus. März brauchte eine Aussage von Jost und bot ihm an, ihn an seiner Kaserne abzusetzen, damit er sich umziehen könne, aber Jost lehnte ab: er wolle seine Aussage lieber so rasch wie möglich machen. Nachdem die Leiche im Kra n kenwagens verstaut und zum Leichenschauhaus unterwegs war, machten sie sich also in März' kleinem viertürigen Volkswagen auf durch den Stoßverkehr. Es war einer jener trostlosen Berliner Morgende, an denen die berühmte B e rliner Luft nicht erfrischend, sondern nur scharf ist, und die Feuchtigkeit wie mit tausend Eisnadeln in Gesicht un d Hände sticht. Auf der Potsdamer Chaussee zwang das Spritzwasser der vorüberrauschenden Wagen die wenigen Fußgänger an die Hauswände. Und während er sie durch die regenbespritzte Windschutzscheibe beobachtete, stellte März sich eine Stadt voller Blinder vor, die sich ihren Weg zur Arbeit ertasten.
    Es war alles so normal. Später sollte ihn das am meisten berühren. Es war wie bei einem Unfall: zuvor ist alles ganz gewöhnlich; dann der Augenblick; und danach hat sich die Welt für immer verändert. Denn es gab nichts Routinem ä ßigeres als eine aus der Havel gefischte Leiche. Das g e schah zweimal im Monat - verkommenes Volk und g e scheiterte Geschäftsleute, leichtsinnige Kinder und liebe s kranke Jugendliche; Unfälle und Selbstmorde und Morde; die Verzweifelten, die Törichten, die Traurigen. Das Tel e fon hatte kurz nach 6.15 Uhr in seiner Wohnung in der Ansbacher Straße geläutet. Das Klingeln hatte ihn nicht geweckt. Er hatte mit offenen Augen im Halbdunkel gel e gen und auf den Regen gelauscht. Während der letzten Monate hatte er schlecht geschlafen.
    »März? Wir haben ne Meldung über ne Leiche in der Havel bekommen.« Es war Krause, der Kripobeamte vom Nachtdienst. »Sein Sie ein guter Junge, fahrnse hin und sehnse nach.« März sagte, er sei nicht interessiert. »Ob Sie interessiert sind oder nicht, spielt keine Rolle.«
    »Ich bin nicht interessien«, sagte März, »weil ich keinen Dienst habe. Ich hatte letzte Woche Dienst, und die Woche davor.« Und auch die Woche davor, hätte er hinzufügen können. »Heute ist mein freier Tag. Sehn Sie noch mal in Ihre Liste« Danach hatte es eine Pause am anderen Ende gegeben, dann hatte Krause sich wieder gemeldet und sich widerwillig entschuldigt. »Sie haben Glück gehabt, März. Ich hab in den Dienstplan von letzter Woche geguckt. Sie können weiter schlafen. Oder ... « Er hatte gewiehert: »Oder was immer Sie sonst tun.«
    Eine Windbö hatte Regen gegen das Fenster gepeitscht und die Scheibe klirren lassen.
    Es gab ein Standardverfahren, wenn eine Leiche en t deckt wurde: ein Pathologe, ein Polizeifotograf und ein Fahnder hatten sich umgehend zum Tatort zu begeben. Die Fahnder arbeiteten nach einem Dienstplan, den das Kr i po-Hauptquartier am Werderschen Markt führte.
    »Wer ist übrigens heute eigentlich dran?« »Max Jäger.«
    Jäger. März teilte ein Büro mit Jäger. Er hatte auf den Wecker gesehen und an das kleine Haus in Pankow g e dacht, in dem Max mit seiner Frau und den vier Töchtern lebte. Während der Woche war das Frühstück so ziemlich die einzige Zeit, in der er sie sah. März andererseits war geschieden und lebte allein. Er hatte sich vorgenommen den Nachmittag mit seinem Sohn zu verbringen. Aber vor ihm erstreckten sich die langen Morgenstunden, eine Leere. So wie er sich fühlte, würde es gut sein, irgendeine Rout i nearbeit zu tun, um sich abzulenken.
    »Na schön, lassen Sie ihn in Frieden weiterschlafen«, hatte er gesagt. »Ich bin sowieso wach. Ich übernehme den Fall.« Das war vor fast zwei Stunden gewesen. März sah im Rückspiegel nach seinem Mitfahrer. Jost schwieg, seit

Weitere Kostenlose Bücher