Vaterland
Sekretärin mit saurem Gesicht Eintragungen auf der T a fel der Nachtzwischenfälle vor. Es gab vier Kolumnen: Ve rbrechen (ernst), Verbrechen (gewaltsam), Zwischenfälle, Unfälle. Jede Kategorie war weiter geviertelt: Zeit der Meldung, Informant, Einzelheiten, veranlaßte Maßnahme. Das durchschnittliche Chaos einer Nacht in der größten Stadt der Welt mit ihren 10 Millionen Einwohnern wurde hier auf wenigen Quadratmetern weißen Plastiks in Hiero g lyphen verwandelt.
Es hatte seit 10 Uhr am Vorabend achtzehn Tote geg e ben. Der schlimmste Zwischenfall - 1H 2D 4K - war ein Autozusammenstoß, bei dem drei Erwachsene und vier Kinder in Pankow kurz nach 11 starben. Keine Maßnahme veranlaßt; das konnte der Orpo überlassen bleiben. Eine Familie verbrannte bei einem Hausbrand in Kreuzberg, eine Messerstecherei vor einer Kneipe im Wedding, eine Frau in Spandau zu Tode geprügelt. Die Notiz über März unterbrochenen Morgen war die letzte der Liste: o6:o7 (O) (das bedeutete, die Nachricht war von der Orpo geko m men) 1H Havel/März. Die Sekretärin trat zurück und s i cherte ihren Füller mit einem scharfen Klick.
Krause hatte sein Telefonat beendet und blickte sich ve r teidigend auf. »Ich hab mich schon entschuldigt, März.« »Schon gut. Ich will die Vermißtenliste. Raum Berlin. S a gen wir: - der letzten achtundvierzig Stunden.«
»Kein Problem.. Krause sah erleichtert aus und drehte sich in seinem Sitz, zu der sauergesichtigen Frau um. »Du hast den Fahnder gehört, Helga. Überprüf mal, was in der letzten Stunde reingekommen ist.« Er drehte sich wieder zurück und sah März an, rotäugig vor Schlafmangel. »Ich wär ja schon vor ner Stunde gegangen. Aber jeder Ärger in der Gegend - Sie wissen ja, wie das ist .« März blickte auf die Berlin-Karte. Das meiste war ein graues Spinnennetz aus Straßen. Aber auf der Linken gab es zwei Farbkleckse: das Grün des Grunewalds und, daran entlanglaufend, das blaue Band der Havel. In den See hinein krümmte sich wie ein Fötus eine Insel, mit dem Ufer durch eine Nabelschnu r chaussee verbunden. Schwanenwerder.
»Hat Goebbels da immer noch sein Haus?«
Krause nickte. »Und die übrigen.«
Da waren die elegantesten Adressen Berlins, praktisch ein Regierungsviertel. Ein paar Dutzend große Häuser, von der Straß e abgeschirmt. Ein Wachposten am Eingang der Chaussee. Ein guter Ort fürs Privatleben, für Siche r heit, für den Anblick des Walde s und für private Anlege s tellen; ein schlechter Ort, eine Leiche zu entdecken. Die Leiche war weniger als 300 Meter entfernt angetriebe n worden.
Krause sagte: »Die lokale Orpo nennt es den >Fasane n strich.«
März lächelte. >Goldfasanen< war Gossensprache für Parteibonzen.
»Nicht gut, ne Schweinerei zu lange von der Türschwe l le liegenzulassen.«
Helga war zurückgekommen. »Personen, die seit Son n tagmorgen als vermißt gemeldet wurden«, verkündete sie, »und deren Identitä t noch nicht geklärt ist.« Sie gab Krause eine lange Rolle ausgedruckter Namen, der überflog sie und gab sie dann an März weiter. »Da s reicht, um Sie b e schäftigt zu halten.« Das schien ihn zu amüsieren. »Sie sollten das Ihrem fetten Freund Jäger g e ben.
Der hätte sich schließlich um diese Sache kümmern so l len, erinnern Sie sich?«
»Danke. Aber ich will wenigstens damit anfangen.«
Krause schüttelte den Kopf. »Sie machen doppelt soviel Stunden wie die anderen. Sie werden nicht befördert. Sie kriegen ei n beschissenes Gehalt. Sind Sie verrückt, oder was?.
März hatte die Liste vermißter Personen zu einer Röhre zusammengerollt. Er lehnte sich vorwärts und klopfte Krause damit leicht gege n die Brust. »Sie vergessen sich, Genosse«, sagte er. »A r beit macht frei.« Das Motto der Arbeitslager. Arbeit macht frei.
Er drehte sich um und ging durch die Reihen der Telef o nistinnen zurück Hinter sich konnte er Krause zu Helga sagen hören: »Siehs t du, was ich meine? Was für n Scheißwitz soll das jetzt wieder sein?«
März kam in sein Büro zurück, als Max Jäger gerade seinen Mantelaufhängte. »Xavi!« Er breitete die Arme weit aus. »Ich hab ne Nachricht aus dem Dienstraum beko m men. Wie kann ich das je wiedergutmachen?« Er trug die Uniform eines SS-Sturmbannführers. Di e schwarze Jacke wies immer noch Spuren seines Früh s tücks auf.
»Schreib's meinem guten alten Herzen an«, sagte März. »Und reg dich nicht zu sehr auf. An der Leiche war nichts, was hilft, sie zu identifizieren, und seit
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