Vatermord und andere Familienvergnuegen
Jetzt tat er es jede Nacht nach der Arbeit und jeden Morgen vor der Arbeit. Ich sah darin ein schlechtes Omen. Ich spürte, dass es ein prophetisches Weinen war - er weinte nicht um etwas, das bereits geschehen war, sondern um etwas, das noch geschehen würde.
Wenn er nicht schluchzte, redete er mit sich selbst. »Dreckswohnung. Zu klein. Bekomme keine Luft. Eine Gruft. Kriegserklärung. Wer bin ich? Wie kann ich mich definieren? Wahlmöglichkeiten sind unendlich und daher begrenzt. Vergebung ist ein Riesenthema in der Bibel, aber nirgendwo steht, dass du dir selbst vergeben sollst. Terry hat sich selbst nie vergeben, und er wird von allen geliebt. Ich vergebe mir täglich, und ich werde von niemandem geliebt. Die ständige Angst, die Schlaflosigkeit. Ich kann meinem Hirn nicht beibringen zu schlafen. Wie geht es Ihrer Desorientierung heute? Sie hat zugenommen.«
»Dad?«
Ich drückte seine Tür einen Spaltbreit auf, sein Gesicht war ernst, und sein Kopf sah aus wie eine nackte Glühbirne, die von der Decke herabhängt.
»Jasper. Tu mir einen Gefallen. Tu so, als wärst du ein Waisenkind.«
Ich schloss die Tür, ging in mein Zimmer und tat so, als wäre ich ein Waisenkind. Es war kein allzu schreckliches Gefühl.
Dann hörte das Weinen so plötzlich auf, wie es begonnen hatte. Auf einmal begann er, nachts auszugehen. Das war etwas Neues. Wohin ging er? Ich folgte ihm. Er ging beschwingten Schritts und winkte im Vorbeigehen Leuten zu. Sie winkten nicht zurück. Bei einem kleinen, vollen Pub machte er halt. Ich guckte durchs Fenster und sah, wie er an der Theke hockte. Und er blies auch nicht allein in einer Ecke Trübsal; er unterhielt sich angeregt mit anderen, lachte sogar. Das war etwas ganz Neues. Er hatte ein ganz rosiges Gesicht bekommen, und nachdem er ein paar Gläser Bier intus hatte, kletterte er auf einen Barhocker, schaltete das Fernsehgerät, in dem ein Footballspiel lief, aus und sagte etwas zu den Gästen, wobei er lachte und die Faust schüttelte wie ein Diktator, der bei der Exekution seines Lieblingsdissidenten einen Witz erzählt. Als er fertig war, verbeugte er sich (obwohl niemand applaudierte), ging in das nächste Pub und brüllte: »Alle mal herhören«, und: »Will mal sehen, was ich tun kann!«, als er wieder herauskam. Dann machte er einen kleinen Abstecher in eine schummrig beleuchtete Bar, wo er im Kreis herumtigerte und dann wieder ging, ohne etwas bestellt zu haben. Dann in einen Nachtclub! Himmel! Hatte Anouk das aus ihm gemacht?
Er entschwebte im Aufzug des Fishbowl, einer Themendisco in der Form eines riesigen Goldfischglases mit einer Plattform rundherum. Ich kletterte auf die Plattform und schaute nach unten in die Glaskugel. Zuerst sah ich nichts anderes als makellos geformte, bildschöne Menschen, die im Stroboskoplicht aufflackerten. Dann entdeckte ich ihn. Scheiße noch mal, er tanzte. Er war schweißgebadet und außer Atem, bewegte sich unbeholfen und mit seltsam müden Armbewegungen, wie ein Holzfäller, der in der Schwerelosigkeit Bäume fällt, aber er amüsierte sich. Oder? Sein Lächeln war doppelt so breit wie ein normales Lächeln, und er stierte lustvoll in Dekolletes aller Größen und Bekenntnisse. Aber was war das? Er tanzte mit einer Frau! Oder? Er tanzte hinter ihr, ließ hinter ihrem Rücken sein Becken kreisen. Sie ignorierte ihn ein wenig zu mühelos, daher machte er einen Schwenk, damit er vor ihr war, und bezog sie mit ein in dieses kilometerbreite Lächeln. Ich überlegte, ob er sie etwa in unsere triste, versiffte Wohnung einladen wollte. Aber nein, sie ging nicht darauf ein. Dann versuchte er es bei einer anderen Frau, einer kleineren, molligeren. Er stieß auf sie herab und begleitete sie zur Theke. Er spendierte ihr einen Drink und reichte die Scheine rüber, als wären sie eine Art Lösegeld. Während sie sich unterhielten, legte er ihr die Hand auf den Rücken und zog sie an sich. Sie machte sich los und ging, und Dads Lächeln wurde noch breiter, bis er aussah wie ein Schimpanse, der sich für einen Werbespot Erdnussbutter aufs Zahnfleisch geschmiert hatte.
Dann erschien ein flachnasiger, halsloser Rausschmeißer in einem engen schwarzen T-Shirt. Seine Goliath-Hand legte sich um Dads Nacken, und er eskortierte ihn gewaltsam hinaus. Auf der Straße sagte mein Dad zu ihm, er solle seine Mutter ficken, falls er es nicht schon getan hätte. Ich war bedient. Ich hatte genug gesehen. Ich musste nach Hause.
Gegen 5 Uhr morgens hämmerte er an die
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