Vatermord und andere Familienvergnuegen
Tür. Er hatte seinen Schlüssel verloren. Ich machte auf, und da stand er, schwitzend und käsig und stotterte an einem Satz herum. Ich ging wieder ins Bett, ohne mir den Satz bis zu Ende anzuhören. Das war die einzige Nacht, in der ich ihm folgte, und als ich Anouk die Geschichte erzählte, sagte sie, es sei entweder »ein recht gutes Zeichen« oder aber ein »sehr schlechtes Zeichen«. Ich weiß nicht, was er in den anderen Nächten trieb, in denen er ausging. Ich kann nur vermuten, dass es sich um Variationen desselben fruchtlosen Themas handelte.
Einen Monat später war er wieder zu Hause und weinte. Außerdem beobachtete er mich beim Schlafen, das war noch schlimmer. In der ersten Nacht kam er in mein Zimmer, als ich gerade wegdämmerte, und setzte sich ans Fenster.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Nichts. Schlaf du ruhig ein.«
»Was, während du hier rumsitzt?«
»Ich werde hier ein Weilchen lesen«, sagte er und hielt ein Buch hoch.
Er machte die Lampe an und begann zu lesen. Ich sah ihm eine Minute lang zu, dann ließ ich den Kopf wieder sinken und schloss die Augen. Ich konnte hören, wie er umblätterte. Ein paar Minuten später hob ich verstohlen ein Augenlid und wäre fast zurückgezuckt. Er starrte mich an. Mein Gesicht war im Schatten, sodass er nicht sehen konnte, wie ich ihn beobachtete, während er mich beobachtete. Mir wurde klar, dass er so tat, als würde er lesen - ein Vorwand, um mir beim Schlafen zuzusehen. So ging das Nacht für Nacht, Dad war bei mir im Schlafzimmer und tat so, als würde er lesen, und ich blieb mit geschlossenen Augen wach, fühlte seinen Blick auf mir ruhen und hörte, wie er in der Stille die Seiten umblätterte. Ich kann Ihnen sagen: Das waren gruselige, schlaflose Nächte!
Dann begann das mit den Ladendiebstählen. Anfangs war das noch ganz nett. Dad kam nach Hause, die Tasche vollgestopft mit
Avocados, Äpfeln und dicken Blumenkohl-Bouquets. Obst und Gemüse, da konnte man nicht meckern. Dann stahl er Kämme, Halspastillen und Pflaster - pharmazeutische Produkte. Nützlich. Dann stahl er sinnlosen Plunder aus Geschenkläden: »Trautes Heim, Glück allein« als Brandmalerei auf einer Astscheibe zum An-die-Wand-Hängen, eine Fliegenklatsche in Form von einem Flipflop und einen Becher, auf dem stand: »Wie viele Freunde du hast, merkst du erst, wenn du dir ein Strandhaus kaufst.« Wir hatten keines.
Dann blieb er wieder weinend im Bett.
Dann beobachtete er mich wieder beim Schlafen.
Dann war er am Fenster. Ich weiß nicht, wann er dort Posten bezogen hatte oder warum, aber er war hellwach. Die eine Hälfte seines Gesichts war nach draußen gewandt, die andere hinter dem gerafften Vorhang versteckt. Wir hätten Jalousien gebraucht, das perfekte Accessoire für überraschende Anfälle von Verfolgungsangst; es gibt doch nichts mit mehr Atmosphäre als diese Schlitze mit ihren dünnen Schattenstreifen, die einem aufs Gesicht fallen. Aber was beobachtete er überhaupt durchs Fenster? Hauptsächlich die Rückfronten der schäbigen Behausungen anderer Leute. Hauptsächlich Badezimmer und Küchen und Schlafzimmer. Nichts Faszinierendes. Mann mit dünnen weißen Beinen steht in Unterwäsche und verputzt Apfel, Frau schminkt sich und streitet mit unsichtbarer Person, Seniorenpaar putzt unwilligem Schäferhund die Zähne. Dad starrte finster hinaus. Eifersucht war es nicht, so viel konnte ich sagen. Für Dad war das Gras auf der anderen Seite noch nie grüner gewesen. Wenn überhaupt, war es brauner.
Alles hatte sich insgesamt verdunkelt. Seine Stimmung war düster. Seine Miene war düster. Sein Vokabular war düster und bedrohlich.
»Verdammte Schlampe«, sagte er eines Tages, am Fenster stehend. »Verdammte Fotze.« »Wer?«, fragte ich.
»Die Schlampe auf der anderen Seite glotzt uns an.«
»Naja, du glotzt sie an.«
»Nur um zu sehen, ob sie hersieht.«
»Tut sie's?«
»Im Moment nicht.«
»Was ist dann das Problem?«, fragte ich.
Das Problem war das: Früher war er witzig. Gut, ich habe mich mein Leben lang über ihn beschwert, aber ich vermisste meinen alten Dad. Wo war seine heitere Gottlosigkeit geblieben? Die war witzig. Das Einsiedlerleben war zum Schreien komisch. Rebellion eine Lachparade! Aber Weinen ist selten lustig, und soziopathische Raserei entlockt kaum jemandem ein Kichern, mir jedenfalls nicht. Nun hielt er die Vorhänge humorlos den ganzen Tag geschlossen. Kein Lichtstrahl verirrte sich in die Wohnung. Es wurde nicht mehr Morgen oder Abend,
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