Vatermord und andere Familienvergnuegen
es gab keine jahreszeitlichen Wechsel. Die einzigen Veränderungen geschahen in der Dunkelheit. Irgendetwas wuchs dort heran. Welche Pilze auch immer in seiner Psyche existierten, sie gediehen bestens an diesem dunklen, feuchten Ort. Nicht lustig.
Eines Nachts verschüttete ich Kaffee in meinem Bett. Es war Kaffee, ich schwöre es, der durch die Laken bis in die Matratze gelaufen war, aber es sah aus wie Urin. Ich dachte: Anouk denkt bestimmt, es wäre Urin. Ich zog die Laken vom Bett ab und ließ sie verschwinden. Dann ging ich zum Schrank, um saubere Laken zu holen. Es waren keine da.
Wo waren die ganzen Laken hin?
Ich fragte Dad.
»Draußen«, sagte er.
Wir hatten kein Draußen. Wir lebten in einer Etagenwohnung. Ich rätselte eine Weile, bis ich zu einer beängstigenden Schlussfolgerung kam. Ich ging nachsehen. Ich zog die Vorhänge auf. Die Außenwelt gab es nicht mehr. Was ich sah, waren Laken; er hatte sie außen vor die Fenster gehängt, vielleicht als weißen, flatternden Schild und Schirm gegen neugierige Augen. Aber nein, sie waren nicht weiß. Sie dienten auch nicht der Abschirmung. Es waren Transparente. Auf der anderen Seite der Laken stand etwas in roter Schrift. Und zwar die Worte »Dreckige Schlampe«.
Das war schlecht. Ich wusste, das war schlecht.
Ich nahm die Laken ab und versteckte sie zusammen mit den anderen, den urinfleckigen. Scheiße, ich hab's hingeschrieben, stimmt's? Okay. Ich gebe es zu. Es war Urin (wenn Kinder ins Bett machen, dann nicht, weil sie Aufmerksamkeit haben wollen, sondern aus Furcht vor ihren Eltern).
Nur damit Sie es wissen: Man muss nicht religiös sein, um zu beten. Das Gebet ist mittlerweile weniger ein Glaubensbekenntnis als etwas, das durch Film und Fernsehen kulturell vermittelt wird, so wie Küsse im Regen. Ich betete für die Genesung meines Vaters, wie ein Kinderschauspieler gebetet hätte: auf den Knien, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen. Ich ging sogar so weit, eine Kerze für ihn aufzustellen, nicht in der Kirche (man kann es mit der Heuchelei auch übertreiben), aber eines Nachts in der Küche, als sein nächtliches Gepolter sich ins Fieberhafte steigerte. Ich hoffte, die Kerze würde lösen, was immer es war, worin er sich so heillos verstrickt hatte.
Anouk war mit mir in der Küche, die sie von oben bis unten putzte, und brummelte, sie wolle nicht nur bezahlt, sondern auch gelobt werden, und ließ unter Hinweis auf Mäusekötel und Kakerlakennester durchblicken, dass sie uns damit das Leben rettete.
Dad lag ausgestreckt auf der Couch und hatte die Hände auf das Gesicht gelegt.
Sie hörte auf zu putzen und blieb in der Tür stehen. Dad spürte, dass sie ihn anstarrte, und presste die Handballen fester auf seine Augen.
»Was, verdammt noch mal, ist mit dir los, Martin?« »Nichts.«
»Soll ich es dir sagen?« »Lieber Gott, nein.«
»Du suhlst dich im Selbstmitleid, das ist meine Meinung. Du bist frustriert, na schön. Deine Ambitionen haben zu nichts geführt. Du hältst dich für jemand ganz Besonderen, der eine Sonderbehandlung verdient, nur siehst du jetzt langsam ein, dass keiner auf der ganzen weiten Welt deiner Meinung ist. Und um es noch schlimmer zu machen, wird dein Bruder verehrt wie der Gott, für den du dich hältst, und das hat dich schließlich in diese abgrundtiefe Depression gestürzt, in der all diese düsteren Gedanken an dir nagen und sich gegenseitig nähren. Paranoia, Verfolgungswahn, Impotenz wahrscheinlich auch, was weiß ich? Aber lass mich dir eins sagen: Du musst dagegen was unternehmen, ehe du was tust, was dir hinterher leidtut.«
Es war genauso nervenzerfetzend, wie jemandem zuzusehen, der einen Silvesterkracher anzündet und sich dann prüfend darüberbeugt, weil er denkt, es wäre ein Blindgänger. Aber Dad war kein Blindgänger.
»Hör auf, dir über meine Seele das Maul zu zerreißen, du aufdringliche Schlampe!«
»Jetzt hör mir mal zu, Martin. Jede andere wäre schon längst weg. Aber einer muss dir ja ein bisschen Vernunft einbläuen. Und außerdem machst du dem Kind Angst.«
»Dem geht's gut.«
»Dem geht es nicht gut. Es pisst ins Bett!«
Dad hob seinen Kopf über die Rückenlehne der Couch, sodass ich gerade eben seinen schwindenden Haaransatz sehen konnte.
»Jasper, komm her.«
Ich ging hinüber zu dem Haaransatz.
»Hast du je Depressionen gehabt?«, fragte mich Dad.
»Ich weiß nicht.«
»Du bist immer so gelassen. Das ist eine Fassade, oder?« »Kann sein.«
»Sag
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