Vatermord und andere Familienvergnuegen
wahrscheinlich abmagern lassen.
In den nächsten Wochen war ich ein seelisches Wrack. Jede Kleinigkeit konnte mich zum Weinen bringen. Ich weinte über Werbespots im Fernsehen, über das braun werdende Herbstlaub. Eines Abends kam Jasper herein und fand mich, Tränen über den Tod eines idiotischen Rockstars, von dem ich bisher nie etwas gehört hatte, vergießend, auf der Couch. Kopfschuss, er war sofort tot, der Glückliche!
Was mich zum Weinen brachte, war die Angst, ich könnte nicht in der Lage dazu sein, mich umzubringen, wenn meine Lebensqualität ein bestimmtes Maß unterschreiten und mein Tagesablauf davon bestimmt würde, mich zwischen Schmerz und Schmerzmitteln zu entscheiden, zwischen den Verheerungen durch die Krankheit und den Verheerungen durch die Behandlung. Auch wenn ich mein Lebtag über den Tod gegrübelt hatte, war mir meine Existenz doch immer als etwas Permanentes und Stabiles auf dem Planeten Erde erschienen - verlässlich wie Vulkangestein. Jetzt, da der Krebs nach Herzenslust metastasierte, erschien es mir grausam, mich auch noch mit Atheismus abzuquälen. Ich bat mein Gehirn inständig, es sich noch mal zu überlegen. Werde ich nicht irgendwie weiterexistieren, fragte ich mich, in irgendeiner x-beliebigen Form? Kann ich daran glauben? Bitte? Wenn ich ganz lieb Bitte sage, darf ich dann an die Unsterblichkeit der Seele glauben? An den Himmel oder Engel oder ein Paradies, in dem sechzehn wunderschöne Jungfrauen auf mich warten? Bitte, bitte, darf ich daran glauben? Es kommt mir noch nicht mal auf die sechzehn wunderschönen Jungfrauen an. Es brauchte nur eine Frau da zu sein, eine alte, hässliche, und sie müsste nicht mal unbedingt Jungfrau sein, meinetwegen könnte sie dem gesamten Jenseits als Spermakübel dienen. Im Grunde komme ich auch ohne Frauen aus, und es muss noch nicht mal ein Paradies sein, es darf ruhig wüst und leer sein - ach, zur Hölle, es darf sogar die Hölle sein, denn würde ich in einem Meer von Feuer Höllenqualen leiden, wäre ich zumindest immer noch mit von der Partie, um Autsch! brüllen zu können. Bitte, darf ich daran glauben?
Alle anderen Szenarien von einem Leben nach dem Tod sind einfach nicht tröstlich genug. Reinkarnation bedeutet, das alte Bewusstsein ist erloschen - ich kann einfach nicht sehen, was daran so aufregend sein soll. Und das trostloseste Ewigkeitsszenario von allen - obwohl es sich täglich größerer Beliebtheit erfreut ist die Aussicht, dass ich sterbe, meine Energie aber irgendwie erhalten bleibt.
Meine Energie, ich bitte Sie, Herrschaften!
Wird meine Energie ins Kino gehen und Bücher lesen? Wird meine Energie sich wohlig in ein heißes Bad sinken lassen oder lachen, bis sie Seitenstiche bekommt? Noch mal zum Mitschreiben: Ich sterbe, meine Energie wird überallhin verstreut und vereint sich mit Mutter Erde. Und von dieser Vorstellung soll ich begeistert sein? Das nützt mir genauso viel, als würden Sie mir sagen, dass mein Gehirn und mein Körper sterben, aber mein Körpergeruch mich überleben und zukünftige Generationen einstinken würde. Also wirklich. Meine Energie.
Aber kann ich mein Leben irgendwie verlängern? Mein tatsächliches Leben, nicht das eines positiv geladenen Schattens? Nein, ich kann mir selbst einfach nicht vormachen, dass die Seele irgendetwas anderes ist als der romantische Name, den wir unserem Bewusstsein gegeben haben, damit wir daran glauben dürfen, es sei reiß- und schmutzfest.
Somit würde der Rest meines Lebens aus sich potenzierenden körperlichen Schmerzen, seelischen Martern und Leid im Allgemeinen bestehen. Normalerweise würde ich damit fertigwerden. Doch das Problem war, dass ich bis zu meinem Tod immer nur an den Tod denken würde. Ich fasste den Entschluss, dass ich mich umbringen würde, wenn ich nicht wenigstens einen Tag aushielt, an ihn zu denken. Warum sollte ich mich gegen den Tod stemmen? Diesen Kampf konnte ich nicht gewinnen. Und wenn ich wie durch ein Wunder diese Runde im Kampf gegen den Krebs überleben würde, was war mit der nächsten? Und der übernächsten? Für nichts und wieder nichts zu kämpfen ist nicht meine Stärke. Wie sinnvoll ist es, sich auf eine Schlacht einzulassen, die man nur verlieren kann? Weil ein Mann seinen Stolz hat? Auch Stolz ist nicht meine Stärke. Ich habe nie verstanden, wozu er gut sein soll, und wenn ich jemanden sagen höre: »Wenigstens habe ich noch meinen Stolz«, denke ich mir immer: Den hast du verloren, als dir dieser Satz über die
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