Vatermord und andere Familienvergnuegen
Demütigung noch einmal in allen Einzelheiten zu schildern, als ein Mädchen aus dem Restaurant kam, ihm die Arme um den Hals schlang und ihn leidenschaftlich küsste. Ich dachte: Na gut, geküsst worden bin ich zwar auch, aber noch nie hat mir eine Frau die Arme um den Hals geschlungen. Mir sanft die Arme um den Hals gelegt vielleicht und sie dann an meinem Körper heruntergleiten lassen, als zöge sie mir einen Pullover an, aber die Arme um den Hals geschlungen hat mir noch keine. Dann löste sich das Mädchen von ihm, und ich erkannte auch sie. Gott, dachte ich, was machen diese Promis bloß - sich zusammentun, damit sie doppelt so berühmt sind?
Dann fiel der Groschen. Sie ist gar nicht berühmt! Sie ist die Freundin meines Sohns!
Na und? Warum sollte mich das scheren? Auf der nach oben offenen Tragödienskala war das nicht sehr hoch. Es war nur ein Teeniedrama, wie man es auch in einer Soap im Abendprogramm sehen konnte. Doch als Augenzeuge war ich nun zu einer Figur in diesem billigen Melodram geworden; ich musste meinen Part weiterspielen, bis sich am Ende alles aufklärte. Wie ärgerlich! Ich war hier wegen einer friedlichen Selbstverbrennung, und ausgerechnet jetzt musste ich mich »in etwas hineinziehen lassen«.
Angewidert warf ich die Streichhölzer und das Benzin weg und ging nach Hause, ungemein erleichtert, dass mir diese Entschuldigung dafür, am Leben zu bleiben, in den Schoß gefallen war.
Als ich nach Hause kam, lag Anouk in ihrem Atelier auf der Bettcouch, einen Berg von Kissen im Rücken. Wenn mir nach einem guten Gespräch war, konnte ich immer auf Anouk zählen. Wir hatten beide unsere Lieblingsthemen, unsere Standardthemen. Meines war die quälende Angst davor, in meiner eigenen Achtung so tief zu sinken, dass ich mich nicht mehr im Spiegel zu Kenntnis nehmen, sondern vorbeigehen würde, so tun, als hätte ich mich nicht gesehen. Bei Anouk war es immer irgendeine neue Horrorstory für die fortlaufende Chronik der modernen Beziehungshölle. Ich konnte mich kaputtlachen, wenn sie von ihren neuesten Liebesaffären erzählte, und ich empfand ein seltsames Mitleid mit diesen Männern, obwohl sie es waren, die sie verließen. Sie verkomplizierte immer alles: Sie brachte die falschen Leute zusammen, schlief mit den Exfreunden von Freundinnen, schlief mit den Freunden des Exfreunds, immer haarscharf auf dem schmalen Grat der Fairness balancierend, von dem sie manchmal herunterfiel.
»Was hältst du von dem Mädchen, mit dem Jasper zusammen ist?«, fragte ich sie.
»Sie ist eine Schönheit.«
»Ist das das Beste, was wir über sie sagen können?« »Ich habe kaum zwei Worte mit ihr gewechselt. Jasper hält sie vor uns versteckt.«
»Das ist nur natürlich. Ich bin ihm peinlich«, sagte ich. »Was ist daran natürlich?« »Ich bin mir ja selbst peinlich.« »Warum interessiert es dich?«
»Ich habe sie heute mit einem anderen Mann gesehen.«
Anouk setzte sich auf und sah mich mit leuchtenden Augen an. Manchmal glaube ich, die menschliche Natur braucht weder Nahrung noch Wasser zum Überleben - nur Tratschgeschichten.
»Bist du dir sicher?«
»Absolut.«
»Hast du es ihm gesagt?« »Noch nicht.« »Tu's nicht.«
»Das muss ich doch wohl, oder? Ich kann schließlich nicht tatenlos zusehen, wie mein Sohn von jemand anderem zum Narren gemacht wird.«
»Ich sage dir, was du tust. Red nicht mit ihm. Red mit ihr. Sag ihr, dass du sie gesehen hast. Sag ihr, sie soll es ihm sagen, sonst würdest du es tun.«
»Ich weiß nicht recht.«
»Wenn du es ihm sagst, gibt es eine Katastrophe. Und wenn es nur das ist, dass er dir nicht glaubt. Er wird denken, du wärst eifersüchtig und sähst ihn als Konkurrenten.«
»Glaubst du, dass Väter und Söhne sexuell konkurrieren?«
»Ja, wenn auch nicht im ödipalen Sinn. Nur im gewöhnlichen Sinn.« Anouk zog ihre Knie an den Körper, legte ihr Kinn darauf und starrte mich an, als überlege sie noch, ob sie mir sagen sollte, dass ich etwas zwischen den Zähnen hätte.
»Ich habe genug von Beziehungen«, sagte sie. »Ich möchte mir eine Auszeit nehmen. Ich glaube, ich bin eine serielle Monogamistin geworden. Es ist peinlich. Was ich brauche, ist ein Liebhaber.«
»Ja, ich glaube, das wäre das Richtige für dich.
»Ein Fick unter Freunden mit jemandem, den ich kenne.«
»Gute Idee. Denkst du an jemand Bestimmtes?«
»Weiß nicht. Vielleicht an jemanden wie dich.«
Das sagte sie wahrhaftig. Und ich bekam es tatsächlich nicht mit. Verdammt schwer
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