Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
Vom Netzwerk:
alt und grau sind. Eine wahre Quelle des Wissens, oder? Aber dieser, mein undankbarer Sohn hatte sich dazu entschieden, alles von sich zu weisen. Ich wusste natürlich, dass er zwangsläufig verwirrt sein musste durch die widersprüchlichen Direktiven, mit denen ich ihn sein Leben lang vollgedröhnt hatte: Lauf nicht mit der Herde, aber ein ganz so erbärmlicher Außenseiter wie ich solltest du auch nicht werden. Welchen Weg sollte er einschlagen? Das wusste keiner von uns beiden. Aber wissen Sie - selbst wenn man ein hundertprozentiger Scheißvater ist, belasten einen die eigenen Kinder doch, ist man doch immer noch anfällig für Sympathieschmerz, wenn sie leiden. Glauben Sie mir, selbst wenn man von seinem Fernsehsessel aus leidet, man leidet trotzdem.
    Derart war also meine psychologische Disposition beschaffen, als der große Wandel eintrat.
     
    Ich fühlte mich nicht gut, doch ich kam nicht darauf, warum dies so war. Mir war weder übel, noch hatte ich Schmerzen. Ich hustete keinen Schleim ab, und meine Fäkalien wiesen keine seltsame Färbung auf. Es war vollkommen anders als die Krankheiten, die ich als Kind hatte, und auch vollkommen anders als meine Mutter mir Rattengift ins Essen gemischt hatte. Ich fühlte mich lediglich ein bisschen angeschlagen - ein ähnliches Gefühl wie damals, als mir erst nach vier Wochen aufgefallen war, dass ich meinen eigenen Geburtstag vergessen hatte. Aber fehlte mir physisch wirklich gar nichts? Tja, eine Sache gab es, die allerdings sonderbar war. Ich nahm an meiner Haut einen schwachen, merkwürdigen Geruch wahr. Sehr schwach. Man konnte es eigentlich kaum einen Geruch nennen. Manchmal roch ich es auch nicht. Dann wieder erschnupperte ich es und rief: »Da ist er wieder!«
    Eines Morgens kam ich dahinter, was es war.
    Jemand mit einer hyperaktiven Einbildungskraft, besonders einer pervers negativen, wird nie von etwas überrascht sein. Die Fantasie kann bevorstehende Katastrophen abfangen, während sie sich warmlaufen, besonders wenn man die Nase offen hält. Menschen, die die Zukunft vorhersagen können: Haben sie die Gabe des Sehens oder die Gabe des Ratens? Genau das hat meine Einbildungskraft an diesem Morgen getan. Sie sah sich alle vorstellbaren Zukunftsszenarien an und substrahierte dann blitzschnell eines nach dem anderen, bis ein einziges übrig blieb. »Scheiße!«, sagte ich laut. »Ich habe eine tödliche Krankheit!«
    Ich riet weiter - Krebs. Es musste Krebs sein; es konnte nichts anderes als Krebs sein, weil es immer Krebs war, der mich in meine Wach-Albträume verfolgte, seit ich zugesehen hatte, wie diese Königsklasse der Krankheiten meine Mutter dahingerafft hatte. Selbst wenn man täglich in Todesfurcht lebt, gibt es gewisse Todesarten, die man ausschließt - Skorbut, Riesenkrake, fallendes Klavier -, aber niemand, dem noch eine einzige Gehirnzelle im Kopf herumrappelt, kann Krebs ausschließen.
    So! Das war's! Tod! Ich hatte schon immer gewusst, dass mir eines Tages mein eigener Körper den Garaus machen würde! Mein ganzes Leben lang habe ich mich gefühlt wie ein Soldat, den es mutterseelenallein hinter die feindlichen Linien verschlagen hat. Überall Feinde, die gegen mich arbeiteten - Rücken, Beine, Nieren, Lungen, Herz -, und irgendwann würden sie zu der Schlussfolgerung gelangen, dass eine Kamikazeemission die einzige Möglichkeit war, mich zu töten. Wir würden alle zusammen untergehen.
    Ich stürzte aus dem Haus und schoss mit einem Affenzahn aus dem Labyrinth. Als ich durch die grünen Vororte raste, sah ich zu meinem Entsetzen, dass auf alles die herrlichste Sommersonne herabschien. Na klar - nichts fördert schneller Krebs als Sonnenschein. Ich raste sofort zum Arzt. Ich war seit Jahren nicht beim Arzt gewesen und nahm einfach den, dessen Praxis die nächstgelegene war. Ich brauchte einfach irgendeinen Arzt, Hauptsache, er war nicht zu fett (vor dicken Ärzten sollte man sich genauso hüten wie vor kahlköpfigen Friseuren). Er brauchte meinetwegen auch kein Genie zu sein; ich benötigte ihn nur, um mir bestätigen zu lassen, was ich bereits wusste. »Dr. P. Sweeny« stand auf der Messingplakette an der Tür. Ich sprintete in seine Praxis hinein. Im Inneren war es dunkel, das Dunkel eines Raums, in dem alles braun ist: das Mobiliar, der Teppich, die Stimmung des Arztes. Braun. Er hatte Sprechstunde und trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, ein Mann mittleren Alters, mit seelenruhiger Miene und üppigem, braunem Haar. Er

Weitere Kostenlose Bücher