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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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ein Wasserschaden hatten sie ramponiert. Ein Vorhängeschloss baumelte lose daran, ein Stemmeisen lag davor auf dem Boden. Die Behörden hatten auf der Suche nach den verschwundenen Millionen die Kiste aufgebrochen und durchwühlt. Ich sah sie mir genauer an. An der Seite klebte ein vergilbter Zettel, darauf standen Dads Name und eine Adresse in Australien.
    Ich machte die Kiste auf.
    Zuoberst lag ein Gemälde. In dem trüben Licht konnte ich es zuerst nicht richtig erkennen, aber als ich es dann doch tat, war ich so schockiert, dass mir auch ein »Was zum... ?« hätte entschlüpfen können.
    Es war das Bild, das ich in diesem Hühnerstall in Thailand gemalt hatte. Das Bild von dem körperlosen Gesicht, das mich mein ganzes Leben lang verfolgt hat. Das Bild, das zerstört worden war.
    Mir schwirrte der Kopf. Ich sah noch mal hin. Es war definitiv mein Bild. Wie war das möglich?
    Ich hob es auf, um zu sehen, was darunter lag. Dort lagen weitere Gemälde von demselben Gesicht. Das war merkwürdig. Ich hatte nur eins gemalt. Dann begriff ich.
    Das waren gar nicht meine Bilder. Sie stammten von meiner Mutter!
    Ich holte tief Luft und dachte nach. Mir fiel Dads grünes Notizbuch ein, das Tagebuch aus Paris. Dad hatte Astrid Farben, Pinsel und Leinwand gekauft, und das Malen war ihre Obsession geworden. Die Sätze aus seinem Tagebuch hatten sich mir ins Gedächtnis gebrannt: »Jedes Bild eine Darstellung der Hölle, sie hatte viele Höllen & malte sie alle. Aber die Hölle hat nur ein Gesicht und sie malte auch nur dieses eine Gesicht. Ein einziges Gesicht. Ein schreckliches Gesicht. Immer wieder gemalt.«
    Ein Augenblick des Entsetzens dehnte sich zu einer ganzen Minute des Entsetzens und darüber hinaus. Ich betrachtete wieder dieses Gesicht; es sah aus wie ein großer Bluterguss, blau-violett und fleckig. Dann studierte ich sorgfältig auch die übrigen Bilder. Es war unbestreitbar. Die Wimpern des unteren Augenlids, gekrümmt wie Finger; die Nasenhaare wie Nervenenden; die Augen in einem tranceähnlichen Zustand; die aufdringliche Nähe der platt gedrückten Nase; das unangenehme Starren. Es sah aus, als drohe das Gesicht, aus dem Bild herauszuspringen und tatsächlich ins Zimmer zu treten. Zudem hatte ich das scheußliche Gefühl, es riechen zu können - sein Geruch stieg in dichten Schwaden von der Leinwand auf.
    Meine Mutter und ich hatten dasselbe Gesicht gemalt, dieselbe gespenstische Fratze! Was bedeutete das? Hatte ich diese Bilder als Kind gesehen? Nein. Dem Tagebuch zufolge hatte sie das Malen nach meiner Geburt aufgegeben, und da Dad und ich Paris gleich nach ihrem Tod verlassen hatten, konnte ich sie unmöglich gesehen haben. Astrid hatte also ein Gesicht gesehen und dieses Gesicht gemalt. Und dann hatte ich dasselbe Gesicht gesehen und es ebenfalls gemalt. Ich studierte die Bilder noch einmal. Mit den scharfen Konturen und gebrochenen horizontalen Strichen, mit denen der giftgrüne geometrisch-abstoßende Kopf gemalt war, sowie den dicken Wellenlinien in Schwarz, Rot und Braun war das Gesicht, das sie gemalt hatte, kein passives Gesicht, es hatte eine Funktion - und die Funktion war, einem Angst einzujagen.
    Ich wandte mich von den Bildern ab und versuchte zu begreifen. Die Vermutung war absolut naheliegend, dass entweder a) meine Mutter von diesem Gesicht in der gleichen Weise wie ich verfolgt worden war oder b) meine Mutter es nicht bloß in den Wolken schwebend gesehen hatte, sondern die Person, der es gehörte, tatsächlich kannte.
    Ich lief in dem Lagerraum auf und ab, quetschte mich durch all den Plunder hindurch und stieß dabei auf ein altes, kaputtes Schränkchen. In der untersten Schublade fand ich eine halb volle Schachtel Marlboros und ein Feuerzeug in der Form eines Frauentorsos. Ich steckte mir eine Zigarette an, war aber zu geistesabwesend, um zu inhalieren. Gedankenverloren stand ich da, bis mir die Zigarette auf die Finger niedergebrannt war.
    Ich riss die Augen auf. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich sie geschlossen hatte. Eine Idee hatte sich in mein Hirn geschlichen. Aber was für eine Idee! Wieso war ich nicht gleich darauf gekommen? Ich lief im Raum herum und rief: »O mein Gott! O mein Gott!«, wie ein Teilnehmer in einer Gameshow. Ich nahm mir die Bilder noch einmal vor. So etwas war mir noch nie passiert - eine plötzliche Erleuchtung! Es war unglaublich! »Wieso nehme ich an, ich würde mich in meinen Vater verwandeln«, rief ich, »wenn es genauso gut sein kann, dass ich wie

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