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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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in einem Ihrer Lagerräume verstaut. Ich wollte mir die Sachen mal ansehen.«
    »Sein Name?«
    »Martin Dean.«
    Die Augen des Mannes wurden eine Idee größer und zogen sich dann wieder zusammen. Er ging in sein Büro und kam mit einem großen, blauen Ordner wieder heraus.
    »Dean, Dean... hier haben wir ihn, Raum...«
    »101?«, fragte ich, Orwell im Sinn.
    »93«, sagte er. »Hier entlang.«
    Ich folgte ihm zu einem Aufzug. Wir stiegen ein. Wir hatten einander nicht viel zu sagen, daher schauten wir beide zu, wie nacheinander die Stockwerknummern aufleuchteten, und ich sah, dass er sie stumm mitsprach. Im vierten Stock stiegen wir aus und gingen einen langen, hell erleuchteten Korridor hinunter. Etwa auf halber Strecke sagte er: »Da wären wir«, und blieb vor einer Tür stehen.
    »Diese Türen haben gar keine Nummern. Woher wissen Sie, dass dies die Nummer 93 ist?«
    »Es ist mein Job, das zu wissen«, sagte er.
    Was für ein Job sollte das denn sein? Er holte einen Schlüsselbund hervor, schloss die Tür auf und stieß sie auf.
    »Sie können die Tür hinter sich schließen, wenn Sie möchten.«
    »Ist schon in Ordnung«, sagte ich. Es war kein Ort, an dem man sich gerne einschließen ließ.
    Der Raum war dunkel und vollgestopft, und ich konnte das andere Ende nicht erkennen - in meiner Vorstellung erstreckte er sich endlos weiter, bis zum Rand des Universums. Ich fragte mich, wie sie das alles hier untergebracht haben konnten: Bücher, Lampen, Landkarten, Fotos, Möbel, leere Bilderrahmen, ein mobiles Röntgengerät, Rettungsjacken, Teleskope, alte Kameras, Bücherborde, Schläuche und Kartoffelsäcke voller Kleidung. Der Raum war komplett von Dads Habseligkeiten okkupiert, alles kreuz und quer und total durcheinander: Schriftstücke auf dem Fußboden, herausgezogene und ausgekippte Schubladen. Offensichtlich hatten die Behörden nach Hinweisen auf Dads Aufenthaltsort gesucht und danach, wo er das Geld gelassen hatte. Jeder staubige Kubikmeter war mit Dads wertlosem Gerumpel zugestopft. Ich verspürte eine Art verwässerten Kummer, als ich mich durch das Labyrinth aus Trödel arbeitete. Nichts von der neurotischen Angst, die er jedem Gegenstand eingeimpft hatte, war verblasst. Ich konnte die Intensität seiner Frustration überall spüren. Mich überkam die Vorstellung, im Kopf meines Vaters herumzulaufen.
    Es war wirklich wie im Niemandsland. Ich hatte das Gefühl, auf noch unentdeckte Kontinente gestoßen zu sein - so fesselte etwa ein riesiges blaues Skizzenbuch für Stunden mein Interesse. Es enthielt Zeichnungen und Entwürfe von unglaublichen Apparaten: eine Guillotine Marke Eigenbau, eine große, zusammenfaltbare Plastikblase, die man sich über den Kopf zieht, um in Flugzeugtoiletten rauchen zu können, ein Sarg in der Form eines Fragezeichens. Außerdem fand ich einen Karton mit dreißig bis vierzig Teenie-Schmonzetten plus seine nicht vollendeten Autobiografie. Darunter lag ein Manuskript in seiner Handschrift mit dem Titel »Liebe in der Mittagspause«, eine widerliche Geschichte über unerwiderte Liebe, verfasst für dreizehnjährige Mädchen. Ich verlor völlig den Überblick. Ich hatte das Gefühl, ein paar weiteren seiner gut verborgenen Identitäten zum ersten Mal zu begegnen. Noch bevor mir die Idee gekommen war, ein Buch über ihn zu schreiben, und noch bevor ich auch nur eine Zeile davon zu Papier gebracht hatte, hatte ich mich als sein unfreiwilliger Chronist betrachtet. Das Einzige, worin ich Experte gewesen war, war mein Vater. Nun schien es so, als habe er Seiten gehabt, von denen ich gar nichts gewusst hatte. So gesehen, verspottete er mich noch aus dem Grab.
    Der Angestellte erschien in der Tür und fragte: »Und, wie kommen Sie so zurecht?« Ich wusste nicht so recht, worauf sich die Frage genau bezog, auch wenn ich behauptete, ich käme gut zurecht.
    »Schön, dann lass ich Sie mal wieder allein«, sagte er und ging -
    Was sollte ich mit diesem ganzen Plunder anstellen? Sicher, die Tagebücher waren es wert, aufgehoben zu werden. Ohne sie würde ich vielleicht nie in der Lage sein, jemandem zu beweisen, dass mein Leben mit ihm wirklich so verrückt gewesen war, wie ich es in Erinnerung hatte. Und nicht nur Außenstehenden - mir selbst auch nicht. Ich nahm die Tagebücher und seine Autobiografie, deponierte sie neben der Tür und stöberte weiter.
    Unter einem mottenzerfressenen Dufflecoat fand ich eine große Holzkiste, die an den Ecken schon ganz morsch war. Das Alter und offenbar

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