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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Jasper. Sie ist nicht zu erreichen.« »Wieso?«
    »Sie ist zurzeit auf Reisen.« »Wo ist sie denn?« »Wir vermuten, in Indien.« »Sie vermuten?«
    »Ehrlich gesagt, weiß niemand, wo sie ist.« »Wie meinen Sie das?«
    »Nach dem Flugzeugabsturz ist sie einfach verschwunden. Wie Sie sich vorstellen können, würden sehr viele Leute gerne mit ihr reden.«
    »Tja, würden Sie ihr, wenn sie sich meldet, ausrichten, dass ich wieder da bin und mit ihr reden muss?«
    Ich hinterließ meine Telefonnummer und legte auf. Warum war Anouk in Indien? Ich vermutete, sie wollte abseits des Rampenlichts ungestört trauern. Verständlich. Das Rampenlicht dürfte wohl der letzte Ort sein, an dem man trauern möchte. Anouk dürfte klar sein, dass eine Witwe, sofern sie nicht die Hysterikerin mit zerfließender Wimperntusche gibt, von der Öffentlichkeit als Mörderin betrachtet wird.
    Ich fühlte mich desolat, unwirklich. Dad war tot, Eddie war tot, jetzt waren sogar Oscar und Reynold tot, die beiden Unzerstörbaren, und nichts davon gab mir das Gefühl, besonders lebendig zu sein. Im Grunde empfand ich gar nichts. Es war, als wäre ich von Kopf bis Fuß narkotisiert worden und spürte den Unterschied zwischen Leben und Tod nicht mehr. Später unter der Dusche war ich mir nicht mal sicher, ob ich den Unterschied zwischen heiß und kalt noch kannte.
    Einen Tag in meinem neuen Leben, und ich hasste es bereits. Es gab keine Chance, in diesem widerlichen Loch etwas anderes zu werden als ein notorischer Widerling. Ich beschloss, von dort abzuhauen. Aber wohin? Nun, nach Übersee. Mir fiel mein ursprünglicher Plan wieder ein - ziellos durch Raum und Zeit zu treiben. Dafür brauchte ich Geld. Das Problem war nur, ich hatte kein Geld und wusste auch nicht, wie ich auf die Schnelle welches beschaffen konnte. Alles, was ich verkaufen konnte, war das, was jeder zu verkaufen hat, der kein Vermögen besitzt: Ich konnte meine Zeit verkaufen, oder ich konnte meine Geschichte verkaufen. Da mir jedes nützliche Talent abging, wusste ich, dass mir meine Zeit nicht einen Dollar mehr als den Mindestlohn einbringen würde, aber da ich nicht nur einen, sondern gleich zwei berüchtigte Männer in meiner allernächsten Verwandtschaft hatte, müsste meine Geschichte eigentlich einen guten Preis erzielen. Natürlich hätte ich es mir leichtmachen und einem Fernsehinterview zustimmen können, doch in den zwanzig Minuten einer halbstündigen Fernsehsendung brächte ich die komplette Geschichte niemals unter. Nein, ich würde sie aufschreiben müssen, damit sie richtig und vollständig erzählt werden würde. Die einzige Möglichkeit bestand darin, das Buch zu vollenden, das ich bereits begonnen hatte, einen Verleger zu finden und mit einem üppigen Vorschuss die Segel zu setzen. Das war mein Plan. Ich holte die Seiten hervor, die die Vernehmungsbeamten gelesen und fälschlicherweise für eine Ausgeburt meiner Fantasie gehalten hatten. Bis wohin war ich gekommen? Ich war noch nicht besonders weit - da gab es noch eine Menge zu schreiben.
    Ich zog los, um mir ein paar Stapel A4-Seiten zu kaufen. Ich liebe leere Seiten - sie beschämen mich so, dass ich sie vollschreiben muss. Die Sonne draußen schlug mir ins Gesicht wie eine Hand aus Licht. Beim Anblick der ganzen Menschen dachte ich: Was für eine elende Plackerei. Da ich nun niemanden mehr hatte, der mir nahestand, musste ich mit einigen dieser Fremden vorlieb nehmen, einige von ihnen zu Freunden oder Geliebten umfunktionieren. Mein Gott, wie viel Arbeit das Leben macht, wenn man immer wieder bei null anfangen muss.
    Die Straßen meiner Heimatstadt kamen mir wie ein fremdes Land vor. Die Nebenwirkungen meines Gefängnisaufenthaltes steckten mir immer noch in den Knochen, denn ich merkte, dass ich zwar einzelne Menschen brauchte, aber Angst vor Menschenmengen hatte, und zwar mit einer solchen Intensität, dass ich mich vor Panik an Straßenlaternen klammerte. Wovor hatte ich Angst? Die wollten mir doch gar nichts Böses. Vermutlich machte ihre Gleichgültigkeit mir Angst. Glaubt mir, man möchte nicht vor dem Menschen an sich ins Straucheln geraten. Er wird einem nicht auf die Beine helfen.
    Ich kam an einem Zeitschriftenkiosk vorbei, und mir wurde schwer ums Herz - alles hatte schon die Runde gemacht. Dad war offiziell für tot erklärt worden. Ich beschloss, keinen der Nachrufe in den Zeitungen zu lesen. »Zapfenstreich für eine Ratte«, »Halali - die Sau ist tot!« und »Ende eines Drecksacks« schienen

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