Vatermord und andere Familienvergnuegen
Bedürfnisse überwinden, das ist mir klar, aber ich mag meine Bedürfnisse, was soll ich da bloß machen?
Ich packte meine Reisetaschen, legte mein Manuskript und ein Foto von Astrid, meiner Mutter, dazu. Sie war eine Schönheit. Das war schon mal nicht schlecht. Die Gesellschaft hechelt mit heraushängender Zunge jedes schöne Gesicht an; ich müsste also nur die richtige Zunge hinauf in den Mund krabbeln, der mir dann alles erzählen würde. Diese Frau hat Lebenswege gekreuzt, und zwar nicht nur den meines Vaters. Manche Zeugen würden tot sein, andere zu alt. Aber irgendwo würde ich auf Freunde aus ihrer Kindheit stoßen und auf Lebensgefährten. Irgendjemand würde sich an sie erinnern. Irgendwo.
Weder Dad noch ich hatten je viel übrig für Religion, denn das Geheimnis war uns lieber als das Wunder. Aber Dad mochte auch das Geheimnis nicht wirklich - für ihn war es wie ein Steinchen im Schuh. Ich werde Geheimnisse jedenfalls nicht so ignorieren wie er. Aber ich werde auch nicht versuchen, sie zu lösen. Ich möchte einfach sehen, was passiert, wenn man einen Blick in ihr Innerstes riskiert. Ich werde meinen eigenen dummen, unsicheren Spuren folgen. Ich werde eine Weile durch die Welt ziehen, die Familie meiner Mutter aufspüren und den Mann, dem das Gesicht am Himmel gehört, und schauen, wohin mich diese mysteriösen Verwandtschaften und Übereinstimmungen führen - zu einem besseren Verständnis meiner Mutter oder zu etwas unvorstellbar Bösem.
Ich blickte aus dem Fenster. Es dämmerte. Ich machte mir einen Kaffee und las ein letztes Mal den Nachruf. Ich brauchte noch einen Schluss. Aber wie schließt man ein derartiges Leben ab? Was wollte er? Welcher Gedanke könnte dies abrunden? Ich entschied mich dafür, all die gedankenlosen, ignoranten Leute anzusprechen, die Dad einen Mistkerl genannt hatten, ohne überhaupt zu wissen, dass er tatsächlich einer war.
Martin Dean war mein Vater.
Diesen Satz niederzuschreiben, nahm mir den Atem. Urplötzlich empfand ich etwas, das ich noch nie zuvor empfunden hatte: Ich fühlte mich privilegiert. Es kam mir plötzlich so vor, als sei ich besser dran als Milliarden anderer Söhne, weil ich das Glück hatte, von einem kompromisslosen Kauz großgezogen worden zu sein, der vor Ideen nur so brodelte. Was machte es schon, dass er ein Philosoph war, der sich in eine Sackgasse gegrübelt hatte? Ein von Natur aus mitfühlender Mensch, der sich lieber lebendig hätte begraben lassen, als zuzulassen, dass irgendjemand durch seine Unzulänglichkeiten ernsthaft zu Schaden kam? Er war mein Vater. Er war ein Narr. Er war ein Narr nach meinem Geschmack.
Es ist unmöglich, ihn auf einen Nenner zu bringen. Wie könnte ich das? Wenn ich nur ein Teil von ihm war, wie sollte ich dann jemals in Erfahrung bringen, wessen Teil er gewesen war?
Ich schrieb weiter:
Die Bewohner dieses Landes haben meinen Vater alles Mögliche geheißen. Gut, er war kein Gandhi und kein Buddha, aber er war nun wirklich auch kein Hitler oder Stalin. Er war irgendwo dazwischen. Aber was ich eigentlich wissen will, ist: Was sagt eure Meinung über meinen Vater über euch selbst aus?
Wenn jemand die tiefsten Tiefen erreicht, in die ein Mensch hinabsinken kann, nennen wir ihn ein Monster, bezeichnen ihn als Teufel oder die Verkörperung des Bösen, aber nie käme jemand ernsthaft auf die Idee oder auch nur die Vermutung, dass diesem Individuum tatsächlich etwas Übernatürliches anhaften könnte. Er mag ein böser Mensch sein, aber er ist einfach ein Mensch. Wenn aber ein außergewöhnlicher Mensch auftritt, der auf der entgegengesetzten Seite der Werteskala agiert, der Gutes tut wie Jesus oder Buddha, erheben wir ihn gleich zum Gott, zur Gottheit, zu etwas Göttlichem und Übernatürlichem. Dies spiegelt wider, wie wir selbst uns sehen. Es fällt uns nicht schwer zu glauben, dass noch die abscheulichste Kreatur, die die schlimmsten Dinge angerichtet hat, ein Mensch ist, aber wir können uns absolut nicht vorstellen, dass ein vorbildliches Geschöpf, das versucht, in uns Vorstellungskraft, Kreativität und Mitgefühl zu wecken, einer von uns sein kann. So hoch ist unsere Meinung von uns selbst einfach nicht, aber so schäbig schon.
Das sollte genügen. Ein hübscher, verwirrender, das Thema verfehlender Schluss. Das hatte ich gut gemacht. Ich steckte das Ganze in einen an Anouk adressierten Umschlag, warf ihn in den Kasten, ging zur Bank, um mich zu vergewissern, dass das Geld auf
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