Vatermord und andere Familienvergnuegen
dachte ich: Des einen Mannes Traum ist eines anderen Mannes Mühlstein. Der eine schwimmt, der andere geht unter - und das auch noch im Schwimmbecken des ersten, eine zweifache Demütigung. Derweil drohte mich der Sturm ins Hafenbecken zu fegen. Da und dort erkannte ich, dass es einfach nicht vernünftig ist, sich über den tieferen Sinn einer Aktion Gedanken zu machen, wenn man gerade mittendrin steckt.
Ich kletterte weiter. Jetzt konnte ich Harry hören. Harry brüllte, und der Wind trug mir seine Stimme zu. Zumindest glaubte ich, dass es Harry war. Entweder das, oder der Wind hatte mich gerade als Arschloch tituliert.
Mein Fuß rutschte ab. Von Kopf bis Fuß zitternd, blickte ich hinunter aufs Wasser. Es sah aus wie eine blaue Betonfläche.
»Danke, dass du mir diesen Dolchstoß versetzt hast, Freundchen!«
Harry stand an einen Stahlträger gelehnt da, denselben, an den ich mich in Todesangst klammerte. Es muss mörderisch für ihn gewesen sein, mit seinem steifen Bein so hoch hinaufzuklettern. Vielleicht lag es an der Erschöpfung, dass er sich vom Wind aus dem Gleichgewicht bringen ließ und beinahe abgestürzt wäre.
Sein Gesicht war vollkommen verschrumpelt. Dass er so oft die Stirn gerunzelt hatte, hatte tatsächlich seine Sorgenfalten einrasten lassen.
»Harry, es war alles nur ein Missverständnis!«, schrie ich. »Spielt jetzt auch keine Rolle mehr.«
»Aber wir können das richtigstellen! Komm runter, und alle werden erfahren, dass das Buch von dir ist!« »Es ist zu spät, Martin! Ich habe sie gesehen!« »Wen gesehen?« »Die Stunde meines Todes!« »Und wann ist die?« »Wie spät haben wir?« »Spring nicht, Harry!«
»Werde ich nicht! Ich werde fallen! Man kann einem Menschen schließlich nicht verbieten zu fallen! Die Schwerkraft besorgt das, nicht ich!« Er lachte aus Angst, aus Hysterie. Sein Blick war auf die vielen Waffen geheftet, die von unten auf ihn zielten. Seine Paranoia war im Stadium der Erleuchtung angekommen. Die paranoiden Fantasien und die Realität - aufs Innigste verschmolzen.
»Ich falle... ich bin tot... es kommt ein neuer Krieg... ein Erdbeben ... und die Wiederkehr der Madonna... nur dass sie jetzt Sängerin ist... aber immer noch Jungfrau... dann die sexuelle Revolution... und stonewashed Jeans...«
Seine außersinnliche Wahrnehmung griff in die Unendlichkeit hinein und machte ihn blind für die Gegenwart. Seine kleinen, nervösen Augen, die normalerweise unstet umherschossen, waren starr; sie wanderten in die Ferne, erforschten und sahen alles. Alles.
»Computer... jeder besitzt einen... bei sich zu Hause... und sie sind fett... alle sind schrecklich fett...«
Wie besessen ratterte er seine Prophezeiungen herunter! Die ganze Zukunft der Menschheit lag vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch, und er überflog die Seiten. Es war zu viel für ihn. »Sie ist tot! Sie ist tot!« Wer? Er verstand nicht, was er sah. »Ein dritter Weltkrieg! Ein vierter! Ein fünfter! Ein zehnter! Es nimmt kein Ende! Sie sind tot!« Wer ist tot? »Die Astronauten! Der Präsident! Die Prinzessin! Noch ein Präsident! Deine Frau! Jetzt du! Jetzt dein Sohn! Alle! Alle!« Es ging vierhundert Jahre in die Zukunft, vielleicht tausend. Also blieb die Menschheit immerhin bestehen. Seine Augen durchstießen Raum und Zeit. Nichts entging ihnen.
Harrys Verbindung zur Ewigkeit wurde durch neuerliches Sirenengeheul unterbrochen. Wir schauten hinunter und sahen, dass die Polizeiautos und die Übertragungswagen der Fernsehsender zurücksetzten. Alle zogen ab.
»Wo wollt ihr Scheißer denn hin?.«, schrie Harry die Welt unter sich an.
»Warte«, sagte ich. »Ich guck mal nach.«
Auf halbem Weg nach unten traf ich auf einen vor Schreck gelähmten Reporter, der beim Hochklettern von Höhenangst gepackt worden war und weder vor noch zurückkonnte.
»Was geht da vor?«
»Haben Sie das nicht mitgekriegt? Sie haben Terry Dean gestellt! Er hat Geiseln genommen! Es wird einen Showdown geben!«
Die Stimme des Reporters klang aufgeregt, doch seine Miene war ausdruckslos, wie man sie in der Regel nur bei Menschen sieht, die einem Leichenwagen folgen. Ich kletterte zurück zu Harry.
»Was ist los?«, fragte er.
»Terry«, sagte ich und fürchtete seine Reaktion.
Harry senkte den Kopf und sah wehmütig hinterher, als auch noch die letzten Journalisten davonrasten.
»Partner«, sagte ich, »ich muss weg und zusehen, ob ich Terry irgendwie helfen kann.«
»Schön. Geh nur.« »Es tut mir leid, ich -« »Hau
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