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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Zusatzerklärung aus, die einiges ins Lot brachte: Sollte Harry West sich in den Tod stürzen, wäre er der erste Mensch, der von der Sydney Harbour Bridge aus live im Fernsehen Selbstmord beging. Ja, das passte perfekt. Terry hatte ihm die basisdemokratische Kooperative geraubt, und Stanley hatte ihm das Handbuch des Verbrechens unter den Füßen weggezogen. Harry wollte unbedingt zur Legende werden, egal, wie. Der erste Mensch sein, der live im Fernsehen von dieser Brücke sprang, und das auch noch in Farbe. Kein Wunder, dass Harry sein Waffenarsenal mit nach oben genommen hatte: Sollte irgendwer versuchen, vor ihm zu springen, würde Harry ihn abknallen, noch ehe er auch nur einen Fuß in die Nähe der Kante gesetzt hätte.
    Ich rannte aus dem Pub, sprang in ein Taxi und raste zur Brücke. Wenn er bewaffnet war, bestand zwar die Möglichkeit, dass er mich erschießen würde, aber ich musste ihm ja erklären, dass alles nur ein Versehen war, das man in ein, zwei Tagen ausmerzen konnte. Ich hatte das mulmige Gefühl, dass dort auf der Brücke irgendetwas Schreckliches passieren würde. Er würde sich ins Wasser stürzen, das schien unabwendbar zu sein. Aber wie ich Harry kannte, würde er so viele Menschen wie möglich mit sich in den Abgrund reißen wollen. Er wollte den Hafen rot von Blut sehen, daran hatte ich keine Zweifel.
    Die Mittagssonne stach mir in die Augen, und durch das Gleißen hindurch konnte ich in der Ferne die Brücke ausmachen. Die Polizisten hatten den Zugang auf beiden Seiten abgesperrt und zermarterten sich den Kopf, was sie mit den Verkehrsteilnehmern machen sollten, die dazwischen festsaßen. In ihrer Panik lenkten sie die Leute dahin oder dorthin, aber das Chaos wurde nicht geringer. Einer dieser konfusen Beamten schien die Leute direkt ins Wasser zu dirigieren.
    Als ich mitten im Verkehrschaos aus dem Taxi stieg, gab mir der Fahrer zu verstehen, dass er es nicht gut fand, unsere Beziehung so abrupt zu beenden. Uniformierte strömten aus allen Richtungen herbei. Noch mehr Polizisten und Feuerwehrleute kamen, Rettungswagen und Übertragungswagen des Fernsehens schlängelten sich durch den Stau. Die Rettungsdienste waren völlig durcheinander. Niemand wusste, was er eigentlich tun sollte. Das zu erwartende Opfer war zugleich der mutmaßliche Täter. Das war verwirrend. Einerseits hatte er eine Waffe, andererseits drohte er nur, sie gegen sich selbst zu richten. Die Beamten wollten ihn gerne mit einer Kugel herunterholen, aber durfte man jemanden erschießen, der androhte, sich umzubringen? Das wäre ja genau das, was er wollte.
    Ich stürmte durch die in Doppelreihe geparkten Autos und fand mich bald an der Polizeiabsperrung wieder, wo ich mich unter dem gelben Absperrband hindurchduckte und dem Bullen, der mich anschnauzte, erklärte, ich sei ein enger Freund von Harry West und könne ihn vielleicht von seinem Vorhaben abbringen. In seiner Verwirrung ließ er mich durch.
    Weit oben konnte ich Harry erkennen. Nur ein kleiner Fleck wie ein winziger Plastikbräutigam auf einer Hochzeitstorte. Es war ein weiter Weg dort hinauf, aber ich musste zu ihm.
    Es war ungeheuer windig. Man fand kaum festen Halt. Während ich hinaufkletterte, wurde mein Magen zum tonangebenden inneren Organ, und ich spürte, wie er sich mir umdrehte. Unter mir konnte ich den Ozean sehen, die grünen Vororte, dahingekleckste Häuser. Der Wind brachte die ganze Brücke zum Knarren und tat sein Möglichstes, mich davonzuwehen. Was mache ich hier bloß?, dachte ich. Das geht mich doch gar nichts an! Ich fragte mich, wieso ich ihn nicht einfach seinen Sensationssprung machen ließ. Weil ich das Gefühl hatte, ich sei schuld, ich sei für ihn verantwortlich, genau wie für die Menschen, die er womöglich noch umbringen würde. Aber warum empfand ich so? Wie passte ich da überhaupt hinein? Ich war nicht der liebe Gott. Ich hatte keinen Samariterkomplex. Meinetwegen konnte die gesamte Menschheit tot umfallen.
    Grübeleien wie diese und die Einsicht, dass die Männer in meinem Leben, Harry, Terry und Stanley, und ihre kleinen Machenschaften mich mit in den Untergang rissen, sollte man sich für später aufheben, wenn man gemütlich vor einer Tasse Kakao sitzt, und nicht während man am Rande eines furchteinflößenden Abgrunds herumklettert. Ich hatte meinen Aufstieg unterbrochen, um über die existenzielle Bedeutung all dessen zu brüten. Wie üblich konnte ich einfach nicht anders. Auf dieser wackligen metallenen Trittleiter

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