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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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ab!«
    Ich kletterte hinunter, den Blick aufs Geländer und meine Füße geheftet, und noch ehe ich unten ankam, hörte ich einen Schuss, das Geräusch eines durch die Luft wirbelnden Körpers und dann weit unten ein Klatschen, einen dumpfen Knall.
    Das war's.
    Das war Harry.
    Auf Wiedersehen, Harry.
     
    Die Polizei hatte Terry auf einer Bowlingbahn umstellt. Ich wusste, dass ganz Australien dort zusammenströmen würde, als wären die Menschen Wasser und Terry das Abflussrohr. Also sprang ich in ein Taxi und versprach dem Fahrer das Blaue vom Himmel, wenn er der Lichtgeschwindigkeit so nahe käme, wie es ein Sechszylinder zuließ. Wenn man unterwegs ist, um dem eigenen Bruder das Leben zu retten, dreht man nicht jeden Penny um, daher warf ich dem Fahrer jedes Mal, wenn sein Fuß auf die Bremse trat, weitere Geldscheine in den Schoß. Als er nach dem Stadtplan griff, raufte ich mir exakt ein Drittel der mir noch verbliebenen Haare aus. Es ist kein gutes Zeichen, wenn ein Fahrer den Kopf nach hinten dreht, um ein Straßenschild zu entziffern, an dem er gerade vorbeigerauscht ist.
    Aber Hinweisschilder waren gar nicht notwendig; eine ganze Kavalkade von Autos und Menschen wälzte sich durch die Straßen und kannte nur eine Richtung: Polizeiautos, Rettungswagen, Feuerwehrwagen, Armeejeeps, Übertragungswagen, Eiswagen, Gaffer, Gärtner, Rabbis, jeder in Sydney, der ein Radio besaß und an einem historischen Ereignis teilhaben wollte.
    Jeder will in der ersten Reihe sitzen, wenn Geschichte geschrieben wird. Wer würde schon die Gelegenheit ausschlagen, dabei zu sein, wenn Kennedys Kopf explodiert, gäbe man ihm ein Ticket nach Dallas im Jahr '63? Wer wollte nicht den Fall der Berliner Mauer miterleben? Leute, die tatsächlich dabei waren, reden darüber, als hätten sie persönlich JFKs Großhirn auf der Krawatte gehabt oder als wäre die Berliner Mauer allein durch ihre ständigen Schubser eingestürzt. Keiner will etwas verpassen, keiner will bei einem kurzen Erdbeben gerade niesen und sich dann fragen, wieso die anderen so schreien. Die Gefangennahme oder Erschießung von Terry Dean war Australiens größtes Erdbeben seit fünfzig Jahren, und deswegen wollte jeder unbedingt zu dieser Bowlingbahn.
    Ich sprang aus dem Taxi und schwang mich unbeholfen über die Motorhauben parkender Autos, wobei ich mir die Hüfte am Rückspiegel eines Fords anknackste. Dann sah ich sie: die Bowlingbahn. Es schien, als sei die komplette Polizeistreitmacht von New South Wales dorthin abkommandiert worden. Scharfschützen bezogen ihre Position auf dem Dach und in den Bäumen des Kinderspielplatzes gegenüber. Einer erklomm das Klettergerüst, ein weiterer balancierte auf der Schaukel.
    Ich fand keinen Weg durch die Menschenmenge. Ich steckte fest. Ich rief: »Ich bin Martin Dean! Terry Deans Bruder!« Das wirkte. Sie bildeten eine Gasse und ließen mich durch. Dann steckte ich erneut fest. Ein paar Leute um mich herum machten es zu ihrer Lebensaufgabe, mich hineinzubugsieren, und hoben mich hoch über die Menge - ich ritt auf Hunderten von Schultern wie ein Rockstar. Ich kam voran, aber manchmal schubste mich die Menge auch in die falsche Richtung. Irgendwann bewegte ich mich seitwärts statt vorwärts. »Vorwärts! Vorwärts!«, brüllte ich, als wäre ich Kapitän Ahab und die Bowlingbahn mein weißer Wal.
    Dann hörte ich die Menge etwas Neues schreien: »Lasst sie durch! Lasst sie durch!« Ich verdrehte den Hals, konnte aber nicht sehen, wen sie meinten. »Das ist seine Mutter! Terry Deans Mutter!«, riefen sie. Dann sah ich sie: meine Mutter, die sich aus der entgegengesetzten Richtung näherte und auf der wogenden See von menschlichen Leibern auf und ab tanzte. Sie winkte mir. Ich winkte zurück. Beide trieben wir auf das unvermeidliche Schicksal unserer Familie zu. Dann konnte ich ihre Stimme hören. Sie rief: »Es ist der Doppelgänger! Der Doppelgänger! Wir haben ihn in die Enge getrieben!« Sie war völlig von Sinnen. Die Menge trieb uns nun so schnell voran, dass wir beinahe zusammengestoßen wären. Sie setzte uns vor den Polizisten ab, die sich mühten, den Mob und auch die Medienmeute zurückzudrängen. Beide Parteien zeterten empört. Wir mussten uns durch den Polizeikordon quetschen und Fragen beantworten. Wir wiesen uns aus. Ich wollte unbedingt hinein, aber meine Mutter war mit ihrem verrückten Gefasel über den Doppelgänger keine große Hilfe. Sie sei Terry Deans Mutter, erklärte sie, aber der Mann dort drin sei

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