Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
legen mir ein Kissen über den Schoß und fahren mich über einen langen, zugigen Flur. Mir ist schwindelig. Die Decken sind hoch, und auf dem Boden tanzen große, bunte Muster. Die Wände glänzen mir in einem verschwommenen Blau entgegen, Ölfarbe, an manchen Stellen abgeplatzt.
Im Waschraum lasse ich mich langsam in eine tiefe Zinkwanne gleiten. Mein Körper ist grün und blau, schorfig und blutig. Ich schäme mich und will alles verstecken. Bei jeder Berührung des Wassers mit einer Wunde zucke ich zusammen. Und trotzdem strecke ich mich wenig später wohlig aus, ich bin froh, dass ich mich unter der Schaumdecke verstecken kann. Es duftet nach Kamille und Heublumenwiese, und im warmen Wasser scheinen die Schmerzen davonzuschwimmen.
»Du hast schönes Haar.« Ich habe inzwischen herausgefunden, dass eine der Nonnen Angelika heißt. Sie wäscht mir den Kopf.
»Schwester Angelika«, mahnt die Schwester Oberin Antonia, »wir achten hier nicht auf Äußerlichkeiten.«
»Trotzdem«, raunt mir Schwester Angelika ins Ohr, »trotzdem gefällt mir deine Frisur. Sie ist so anders.«
Ich muss lächeln, meiner Oma hat sie auch gefallen.
Sie trocknen mich behutsam ab und streichen mir eine Salbe auf die Striemen, die nach Kamille riecht.
Mein Bett ist frisch bezogen. Ich schmiege mich in die Laken und schweige in mich hinein, presse meine Lippen fest aufeinander.
Sie schieben mir ein Tablett hin mit Milch und Brot. Ich will nicht.
Schwester Angelika tunkt das Brot in die Milch und hält es mir hin. Die Milch duftet nach Honig. Sie ist warm und tropft vom Brot in die Schale. Die Tropfen ziehen Kreise, wenn sie in die Milch fallen.
Dann fange ich langsam an zu essen, um plötzlich, ganz plötzlich, wie von einer übermächtigen Gier befallen, alles in mich hineinzustopfen. Rasch, schnell, schnell … Wenn mein Vater zurückkommt, nimmt er mir alles, schlägt mich, lässt mich hungrig liegen.
Ich schaue mich angstvoll um. Angelika legt ihre Hand auf meine. Ich werde ruhiger und esse langsamer, fast bedächtig kaue ich, schlucke und schluchze wieder. Ich weiß nicht, warum ich nicht aufhören kann zu weinen. Nur das Zittern wird weniger. Und die Gier ist einer großen Ruhe gewichen.
Tiefe, bleierne Müdigkeit befällt mich. Im Schlaf kann ich fliegen. Aber nicht so wie Nils Holgersson auf dem Rücken einer Wildgans. Ich höre im Traum Omas Stimme. Sie liest mir vor. Während ich fliege. Über die Promenade, die Sonnenstraße, die Schule, den Zwinger, die Gutenbergstraße, Schuberts Villa, den Güterbahnhof. Ich betrachte alles von oben, und wenn ich ganz hoch fliege, wird alles klein.
Mir fällt auf, dass ich nicht über das Haus in der Salzstraße fliege.
In meinen Nächten tobe ich herum. Mein Kissen liegt dann am Morgen irgendwo.
Meine Nachtwächterin, Schwester Angelika, sagt zur Oberin: »Es wird langsam besser. Bald ist es vorbei.«
Oft kribbelt meine Haut, und ich möchte kratzen. Schwester Angelika zeigt mir dann drohend den Zeigefinger. Sie scherzt und reicht mir einen großen Topf mit Ringelblumensalbe.
Die Nachtluft ist kalt. Wie feine Nadeln sticht sie in meine Lunge. Ich stehe am Fenster und sehe die Sterne. Irgendwo steht auch der Mond.
Ich kann meine Arme strecken, ohne dass es weh tut. Ich kann wieder tief atmen. Manchmal höre ich die Sirenen: Voralarm. Fliegeralarm. Entwarnung. Flak schießt. Blitze zucken über den Nachthimmel. Es macht mir immer noch Angst. Aber es ist aus der Ferne besser zu ertragen.
Hier gibt es keinen Volksempfänger. Keine »Goebbelsschnauze«, wie Hans immer lachend meinte.
Aber es gibt auch keinen Hans und keine Mama. Und meinen Vater auch nicht. Bald ist Weihnachten. Wie wird das sein ohne Familie? Wo sind Opa und Oma? Wo bin ich? Ich weiß eigentlich nur, wo ich nicht mehr bin. Doch ich mag nicht fragen, obwohl ich hier bestimmt fragen dürfte. Aber ich habe keine Stimme mehr.
Manchmal kritzele ich auf einen kleinen Zettel einen Wunsch. Wenn ich Durst habe oder hungrig bin. Manchmal ein
Danke
. Angelika sagt, dass ich bald in den großen Schlafsaal darf zu den anderen.
»Als der Junge am nächsten Morgen die Augen aufschlug, lag er auf einem richtigen Bett. Er blickte sich um und stellte erstaunt fest, dass er sich in einem großen Haus mit vier Wänden und einem Dach darüber befand. Da glaubte er wieder zu Hause zu sein und rechnete jeden Moment damit, dass die Mutter ihm das Frühstück bringen würde.«
Schwester Angelika sitzt neben mir am Bett und
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