Vatikan - Die Hüter der Reliquie (German Edition)
Spalte, noch immer rieselte feiner Firn nach. Die glatten Wände der Spalte spiegelten das Licht, das stetig heller wurde und uns zum Rückzug gemahnte.
»Wir kommen morgen wieder«, sagte Argyle.
In der nächsten Nacht kehrten wir auf das Eisfeld zurück. Abermals tasteten wir uns vorsichtig zum Spalt vor und blickten hinunter. Still und eisig lag die Welt vor uns. Kein Laut drang zu uns herauf. Es war, als ob nie jemand eingebrochen wäre. Wir riefen, doch wir erhielten keine Antwort. Wir versuchten, Gedanken aufzugreifen, doch es gab keine. Waren Miguel und Khemais umgekommen? Das wäre einer Erfüllung unsere Gebete gleichgekommen, doch wir zweifelten daran.
»Unmöglich, dass die beiden ohne Hilfe aus diesem Spalt gelangten.« Argyle sprach das aus, was ich hoffte. Ich wandte mich ab.
»Wir wollen den Herrn bitten, dass sie für immer dort unten eingeschlossen bleiben.«
Argyle und ich knieten uns auf dem Gletscher nieder und dankten Gott. Erst dann machten wir uns daran, ins Tal zu kommen.
Argyle machte mich auf etwas aufmerksam und ich schreckte aus meinen Gedanken. Ich hatte seine Worte nicht verstanden und sah, dass er die Stirn runzelte.
»Es ist gut so, auch wenn er dein Sohn ist. Ohne Anführer werden die Vampyre bald aufgeben.«
Ich sah in Argyles Augen und war mir in diesem Augenblick meiner Liebe zu ihm so seltsam bewusst, dass es fast schmerzte. Dieser Mann war der aufmerksamste, der mir je in meinem Leben begegnet war.
»Alles wird gut«, sagte er.
Wir hatten den Weg erreicht und der Schneefall ließ nach.
*
»Verzeihen Sie, wenn ich schon wieder unterbreche, aber waren Sie die ganzen Jahre in dieser Gletscherspalte gefangen?« Comitti sah zu seinem Gast. Der nickte und blickte finster aus dem Fenster.
»Ich war so nah dran. So nah.« Miguel hielt seinen Daumen und den Zeigefinger seiner linken Hand ein paar Millimeter auseinander. Der Siegelring blitzte im Licht der Lampe auf.
»Aber wie und wann konnten Sie sich befreien?«
»Die globale Klimaerwärmung, Comitti. Sie lesen jeden Tag in der Presse darüber. Auch der Pic de Aneto ist davon betroffen. Die Gletscher schmelzen ab.«
Comitti nickte. Er wusste, dass das Abschmelzen der Gletscher eine Gefahr für die Menschheit bedeutete. Aber wie die Gefahr aussehen konnte, das hatte er erst jetzt begriffen. Was mochte man noch alles finden, wenn die Berge ihre Geheimnisse freigaben? Der Fund des Ötzi war nur der Anfang gewesen, das wurde ihm klar.
»Pic de Aneto? Wo liegt der?«
»Im Gebirgsmassiv der Maledeta. Am Ende des Benasquetals, sehr schöne Gegend. Heute ein Wintersportgebiet. Wir haben lange warten müssen.« Miguel lächelte.
»Wir? Heißt das, dass dieser Khemais auch noch am Leben ist?« Comitti sah erschrocken über sein Weinglas.
»Wo denken Sie hin, Comitti! Er war untragbar. Er wollte allein herrschen, das konnte ich nicht verantworten. Glauben Sie mir, unter seiner Herrschaft hätten die Menschen nichts zu lachen gehabt.«
»Aber unter Ihrer«, sagte Comitti, der sich noch darüber wunderte, dass Miguel sein Verhalten rechtfertigte.
Miguel sah träge von seinem Siegelring auf, an dem er gespielt hatte. »Sie haben es immer noch nicht begriffen, Comitti. Ich werde die Menschheit retten. Nur mit mir wird die Welt weiter bestehen. Ich werde verhindern, dass Gletscher abschmelzen, die Treibhausemissionen stoppen.«
Comitti seufzte. Er gab Miguel recht, dass die Menschheit schlecht mit ihrem Planeten umging und man etwas tun musste. Comitti setzte sich im Sessel zurecht. Er hätte liebend gern weitergelesen und erhoffte sich aus dem Rest des Manuskripts zu erfahren, wo sich Apollonia und Argyle aufhielten, andererseits wüsste es Miguel dann auch. Das wollte er so lang wie möglich vermeiden. »Wann konnten Sie dem Gletscher entkommen? Und wie sind Sie Khemais losgeworden?« Comitti ahnte, dass sein Gegenüber auf diese Frage wartete. Miguels Gesicht erstrahlte, er trank einen Schluck, bevor er sich zurücklehnte und tief Luft holte. Comitti musste sich vorbeugen, da Miguel einen verschwörerischen, flüsternden Ton anschlug. »Über zweihundert Jahre verbrachte ich im Gletscher. Die Monotonie machte mich fast wahnsinnig.«
Fast , dachte Comitti spöttisch und schüttelte sich.
»Zweihundert Jahre, in denen ich immer wieder versuchte auszubrechen. Aber die Wände waren zu glatt und ich war eingeklemmt. Die Hoffnung stirbt zuletzt, selbst wenn man ein Vampir ist. Ich lauschte, aber ich konnte nichts und
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