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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Während ich durch die Straßen streifte, die mir ganz entfernt vertraut vorkamen, wusste ich, dass die ganze Welt um mich herum verlassen war, öde und leer. Nüchtern betrachtet ergab das alles keinen Sinn, aber irgendwie wusste ich, dass die Welt, in die ich hineingeraten war, was für eine Hölle sie auch sein mochte, ganz allein mir gehörte – wie der Augenblick in einem Traum, wenn man begreift, dass man träumt, und in der wirklichen Welt aufwacht ... nur um festzustellen, dass man immer noch träumt.
     
    Ich weiß nicht, wie lange ich so ziellos in meiner neuen Umgebung herumlief, vom Irrealen der Häuser in den unterschiedlichsten Stadien ihres Verlassenseins überwältigt, manche davon überwucherte Ruinen, andere eben erst erbaut, mit brennenden Lampen in den Zimmern, Kinderspielzeug auf den Teppichen, Radios, aus deren Lautsprecher weißes Rauschen drang. Es sah aus, als hätten die Einwohner der Stadt einfach alles stehen und liegen lassen, als wären sie fortgegangen, jedoch im Laufe mehrerer Jahrhunderte, und keiner hatte den Weggang des anderen bemerkt, bis hin zum Letzten, der, so schien es, nur Sekunden vor meiner Ankunft verschwunden war. »Du glaubst wirklich an dieses ›Buch‹?«, hatte Jack mich gefragt. »Du glaubst wirklich, dass du es finden kannst?«
    Er trank sein Glas Ouzo aus, lockerte seine schwarze Krawatte und schenkte sich nach. Wir waren in seinem Zimmer, nach der Beerdigung – überall leere Bierdosen, leere Flaschen und Plastiktüten mit noch mehr Alkohol. Wir würden uns die Kugel geben. Wir würden uns heute Nacht dermaßen die Kugel geben! Bis wir nicht mehr wussten, wo oben und unten war.
    Ich schüttelte den Kopf, lachte traurig.
    »Vielleicht ist es wirklich nur ein uralter schlechter Witz. Aber ... ich will es einfach wissen. Mein ganzes Leben wollte ich wissen, ob ... es wirklich ist.«
    »Nichts ist wirklich«, sagte Joey.
    »Alles ist wirklich«, sagte Jack. »Alles ist wahr; nichts ist erlaubt.«
    Das ist ein Zitat, dachte ich. Das kenne ich irgendwoher. Aber ich konnte es nicht zuordnen, und es stimmte auch nicht ganz.
    Ich blickte von einem zum anderen – wir alle waren von Alkohol und Trauer betäubt – und erlebte einen jener atemberaubenden Augenblicke, in denen man etwas Wichtiges begreift und es sofort wieder vergisst.
     
     
    Kein Trost, keine Antworten
     
    Und so sitze ich nun in dieser Kneipe und schreibe, und auf dem Tresen stehen volle Biergläser, auf den Tischen liegen Zigarettenschachteln und Feuerzeuge – Himmel, als ich hereinkam, brannte noch eine Kippe in einem Aschenbecher –, aber nirgends war ein Mensch zu sehen. Nur die Erinnerung daran, dass es sie gegeben hatte, war allgegenwärtig. Die letzten paar Stunden habe ich damit zugebracht, alles in meinem Kopf hin und her zu wälzen, doch es ist mir nicht gelungen, irgendetwas zu begreifen. Nirgends finde ich Trost oder Erklärungen, nur dasselbe Gefühl, das ich jedes Mal empfinde, wenn ich das ›Buch‹ betrachte – eine Mischung aus Schrecken und Staunen, Entsetzen und Hochstimmung.
    Es liegt vor mir auf dem Tisch, ein Rätsel.
     
    Vielleicht bin ich ja tot, vielleicht existiert diese Welt nur für mich allein und ist nicht mehr und nicht weniger als ein nur mir zugängliches Tor zu ... was auch immer jenseits liegt. Und das ›Buch‹? Vielleicht habe ich es selbst erfunden, selbst geschaffen, während ich auf den Moment gewartet habe, an dem ich endlich meiner eigenen Sterblichkeit ins Auge blicken und die Grenze ins Unbekannte übertreten würde. Habe ich mir mein Leben vor dem heutigen Tag nur eingebildet ... oder habe ich es neu erschaffen, samt des Weges, der mich zu diesem Kartenbuch geführt hat, samt der Familiengeschichte voller Mythen und Legenden, dem Wissensdurst, dem Verlangen, ein verborgenes, heiliges Geheimnis zu lüften? Samt der Freunde, gefunden und wieder verloren. Und all das führte nun unerbittlich dazu, dass ich das Buch aufschlug und entdeckte, was mit mir los war.
     
    Ich vermisse Jack und Joey und Thomas. Anscheinend stellt sich niemand die Frage, ob die Toten um jene trauern, die sie zurücklassen. Doch ich vermisse sie, obwohl ich mir nicht einmal sicher bin, ob sie je existiert haben. Wenn meine ganze Welt bis zu dem Zeitpunkt, als ich das ›Buch‹ fand, nur das Hirngespinst eines Toten war, der sich wünschte, er wäre noch am Leben, dann waren sie vielleicht auch nur Bruchstücke von mir, die ich neu zusammengesetzt und denen ich

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