Vellum: Roman (German Edition)
Aasvogels, der dem Tod folgt, und gleichzeitig die Straße in das Land jenseits des Sonnenuntergangs, nach Westen. Vielleicht interpretiere ich das alles falsch, aber es scheint mir schlüssig, genauso wie alles andere auch. Was ich tun werde, wenn ich die Küste erreiche, weiß ich noch nicht, aber ich vermute, dass das Land im Westen erst der Anfang meiner Reise sein wird. Mir fallen Geschichten aus New Mexico ein, aus diesem staubigen Wüstenland der Träume, über eine Straße, die Jornada del Muerto genannt wird, der Pfad des Toten, und ich frage mich ... aber ich kann mir nicht einmal die Straße vorstellen, auf der ich meine Reise antreten werde. Wie kann ich da hoffen, jene Ozeane und Kontinente zu durchqueren, die im Ganzen gesehen bloße Pfützen und Inseln sind. Ich muss ein Narr sein, dass ich Entfernungen zu überwinden hoffe, die alles in den Schatten stellen, was ich je gekannt habe.
Und so sitze ich hier in der leeren Kneipe, ein letztes Zögern und Zweifeln.
Aber mein Ziel kenne ich. Ich muss an jene letzte Seite des Ewigen Stundenbuches denken und an den Weg, der von der winzigen Oase in der Mitte der Karte nach Norden führt, aus dieser Welt von der Größe des Universums und sogar aus dem Fassungsvermögen des ›Buches‹ hinaus. Ich frage mich, ob das der Weg ist, den wir alle einmal beschreiten müssen, mag es auch eine Ewigkeit dauern, bis wir seinen Anfang gefunden haben, und eine Ewigkeit von Ewigkeiten, ihm zu folgen. Vielleicht ist es der Weg in die Hölle oder aus ihr hinaus, in den Himmel oder etwas noch Unergründlicheres; denn wenn diese ganze leere Welt mein Zwischenreich ist, sind Himmel und Hölle vielleicht nur winzige Ausschnitte der letzten Wahrheiten, die von dem ›Buch‹ abgebildet werden, und vielleicht schreite ich auf meinem Weg an ihnen vorbei wie ein Pilger an einem Dorf, sein Ziel klar vor Augen, den Blick auf eine Entfernung sogar jenseits des fernsten Horizonts gerichtet, der Staub unter seinen Füßen der Staub, zu dem wir alle werden – das Leben, dessen wir uns mit der Haut, die wir abstreifen, entledigen.
Ich trinke das Bier aus, das ich mir in dieser verlassenen, aber gut ausgestatteten Kneipe gezapft habe, und komme zu dem Schluss, dass es Zeit ist, sich nach einem Schlafplatz umzuschauen. Ich wünschte, ich könnte in dieser neu gestalteten Welt noch mein Zuhause finden; eine letzte Nacht würde ich gerne in meinem eigenen Bett verbringen. Aber vielleicht gibt es einen Grund, weshalb mir dieser Trost verwehrt ist. Vielleicht würde ich dann morgen in einer Welt voller Menschen aufwachen, in einer Illusion der Wirklichkeit, die sich aus meinen Erinnerungen zusammensetzt, um als Puffer gegen die allzu krasse Wahrheit zu dienen. Ich weiß – einem Teil von mir würde das gefallen. Aber ich habe das ›Buch‹, und auf den Seiten des ›Buches‹ sind die Karten abgebildet, und auf diesen Karten ist der Weg vorgezeichnet, dem ich nun folgen muss. Ein anderer Teil von mir möchte morgen mit dieser Wahrheit aufwachen.
Doch ja, es ist Zeit für mich schlafen zu gehen – selbst wenn es nur ein eingebildeter Schlaf im Schlaf des Todes ist –, damit ich aufwachen und mich erholt dem Morgen stellen kann. Während ich hier sitze, bleibt mir die Ironie des Ganzen nicht verborgen, aber es scheint, dass ich sogar in der ewigen Ruhe ... Ruhe benötige.
Ich habe einen langen Weg vor mir, eine lange, verschlungene und staubige Straße ... vielleicht die Straße des Ewigen Staubes.
1
Ein Tor aus der Wirklichkeit hinaus
Dem großen Himmel
Dem großen Himmel lieh sie ihr Ohr und der großen Erde. Dem großen Himmel lieh die Göttin ihr Ohr und der großen Erde. Dem großen Himmel lieh Inanna ihr Ohr und der großen Erde.
Himmel und Erde verließ Inanna, um in die Unterwelt hinabzusteigen, ihren Platz als Herrin des Himmels und heilige Priesterin der Erde verließ sie, um in die Unterwelt hinabzusteigen. In Uruk und in Badtibira, in Zabalam und Nippur, in Kisch und Akkad verließ sie ihre Tempel, um nach Kur hinabzusteigen.
Sie sammelte die sieben Me, und mit ihnen in Händen, in ihrem Besitz, begann sie ihre Vorbereitungen.
Mit geschwärzten Augen setzte sie sich die Sugurra auf das Haupt, die Krone der Steppe, spielte mit den feinen, dunklen Locken, die ihr in die Stirn fielen, strich sie zurecht. Winzige Lapislazuliperlen schmückten ihren Nacken, und eine doppelt geschlungene Perlenschnur fiel ihr in den Ausschnitt bis auf die Brust. Ein
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