Vellum: Roman (German Edition)
für diesen Boden einen Teppich besorgen oder so. Und irgendeine Art Heizung, wenn du möchtest, dass ich hier bleibe.«
»Klar, was du willst. Aber jetzt komm her.«
»Was ist denn!«, grummle ich, hülle mich in eine Decke und gehe auf Zehenspitzen zu ihm hinüber.
»Scheiße — hast du kalte Finger!«
Draußen ist der Himmel klar und schwarz, mit zahllosen Sternen übersät, und Vollmond schimmert in der Dunkelheit und lässt den Landesteg, den Strand und die Wellen auf eine Art und Weise greifbar erscheinen, wie es nur Mondschein kann. Am Ende des Landestegs zeichnen sich die groben Umrisse einer schwarzweißen Gestalt ab — ein Kleiderhaufen mit einer Melone obendrauf —, und an einem der Anlegepfosten hängt etwas wie ein Mantel an einem Haken, bauscht sich in der Brise wie eine Fahne, die sich träge im Wind wellt: eine Menschenhaut, die leer und gewichtslos auf und ab tanzt und die uns zuzuwinken scheint wie eine zerfetzte Puppe.
»Was sollen wir damit machen?«, frage ich.
»Lassen wir es dort«, sagt Jack. »Es geht uns nichts mehr an.«
Ich frage mich — ich frage mich laut, ob wohl jemand anderes hineinschlüpfen wird, und Jack lässt den Vorhang fallen.
»Wahrscheinlich«, sagt er. »Aber ich nicht und du ebenso wenig. Alle Lumpensammler der Welt zusammengenommen könnten die Lüge nicht ewig aufrechterhalten. Früher oder später wird sich Endhaven zersplittern. Früher oder später wird hier dasselbe passieren wie in den großen Städten.«
Wir setzen uns aufs Bett, und ich frage ihn, was er über das weiß, was in den Städten geschehen ist, und er sagt es mir, und ich frage ihn, wer er ist und woher er kommt, und er sagt es mir, und ich frage ihn, warum er hier ist, und er sagt es mir, er sagt mir alles — erzählt mir alles, was er weiß, und alles, was ich wissen sollte, und alles, was für mich von Bedeutung ist.
Und so liegen wir auf dem Bett, und ich spüre, wie er in meiner Umarmung allmählich wärmer wird, Haut an Haut — vergängliche Geschöpfe, die nicht durch sinnentleerte Symbole an die Wirklichkeit gebunden sind, sondern durch Körper, die einander umschlingen. Ich sage ihm, dass ich Endhaven verlassen möchte, dass ich diese ganze Heuchelei hier so schnell wie möglich hinter mir lassen und sehen möchte, was dort draußen ist. Bisher hatte ich immer Angst vor dem grauen Zwielicht, vor den Umrissen, die sich im Ozean der Erinnerungen auflösen. Jetzt schmiede ich Pläne und quassle ganz aufgeregt, als wären meine Worte in der Lage, ihn mitzureißen.
»Eins nach dem anderen«, sagt er.
Für mich ist Endhaven ein Hafen, und wir liegen hier vor Anker, mit unseren Armen und Beinen aneinander festgemacht, aber jeder für sich ... eigenständig. Doch Schiffe sind dafür gedacht, aufs Meer hinauszusegeln, denke ich.
Mir wird bewusst, wie schön er ist, seine weiche Haut und die geheimnisvollen Narben, die wir beide haben, wir beide und sonst niemand. Ich liebe ihn, ich liebe ihn wirklich, aber mir ist auch klar geworden, dass ich ihn nicht mehr auf dieselbe Weise liebe wie noch vor wenigen Stunden, mit diesem stummen, jungenhaften Verlangen, das ich jetzt kaum noch begreifen kann. Ich liebe ihn, weil ich ihn nicht mehr brauche.
»Jack«, sage ich.
Mir ist klar geworden, dass auch er mich wirklich gebraucht hat. Ich glaube, dass er jemanden gebraucht hat, der sich nach ihm verzehrte — vielleicht, damit er ihm zeigen konnte, wie leer dieses Verlangen eigentlich war. Aber was brauchen wir in dieser Welt eigentlich wirklich? Was brauchen wir wirklich?
»Was ist?«, fragt er.
Ich lächle leise vor mich hin.
»Nichts.«
Danksagung
Es wird den Lesern dieses Buches wahrscheinlich nicht entgangen sein, dass einige Abschnitte dieses Romans Umarbeitungen verschiedener Sagen des Altertums sowie von Gedichten und Dramen einschließen. Da ich das Lateinische und Griechische nicht einmal annäherungsweise fließend beherrsche – vom alten Sumerisch ganz zu schweigen –, musste ich auf die Übersetzungen anderer zurückgreifen, um meine ganz persönliche Version dieser antiken Texte erschaffen zu können. Es wäre unverzeihlich, würde ich nicht versuchen, meine Dankesschuld abzutragen.
Eine ausgezeichnete Quelle für die sumerischen Abschnitte, die von Inannas Reise nach Kur und Dumuzis Flucht vor den Ugallu handeln, war die vorzügliche Übersetzung ›Inannas Abstieg in die Unterwelt‹ von Diane Wolkstein und Samuel Noah Kramer ( Inanna, Queen of Heaven and
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