Vellum: Roman (German Edition)
Holzgeländer des Landestegs. Ich bin jetzt schon so durch den Wind, dass ich nicht mehr weiß, ob ich mich in dem peitschenden Regen verliere oder in meiner eigenen Angst und Verwirrung. Ich muss husten und beuge mich über das Geländer, ein trockenes Röcheln. Der Lumpensammler lacht, und ich zittere vor Wut und Entsetzen.
»Ich weiß es nicht«, quetsche ich mühsam hervor, und die Übelkeit schnürt mir fast den Hals zu. »Vielleicht sind Sie der Einzige, der das kann. Vielleicht ist Jack der Einzige ...«
Ich spüre, wie mir der Regen und die Nacht durch die Kleider bis auf die Haut dringen, und die Kälte dringt mir bis auf die Knochen. Ich spüre mein Herzklopfen, ich spüre jeden tiefen, keuchenden Atemzug, das raue Holz unter meinen Fingern, die Anspannung meiner Muskeln. Ich spüre meinen Körper, meine nasse Haut, meine zitternden Knochen, mein pochendes Blut und meinen fiebrigen Kopf. Ich fühle mich klein und furchtsam, aber wenigstens — und das spüre ich vor allem — spüre ich etwas!
»Vielleicht bin ich es selbst!«
Der Lumpensammler hält den kleinen Hautfetzen zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe, das kleine Siegel meiner Seele, und er grinst sein Totenkopfgrinsen.
»Soll ich also um Wind pfeifen?«
Das graue Elend der Dämmerung umpeitscht ihn wie seine zerlumpten Kleider. Hier draußen am Ende des Landestegs sind wir ihr völlig ausgeliefert, und Jack und sein Strandhaus sind nicht mehr zu erkennen. Das Ufer ist wie weggewischt.
»Lassen Sie sie los«, sage ich. »Lassen Sie sie einfach los.«
Und eine Hand legt sich auf meine Schulter.
»Sie haben gehört, was er gesagt hat«, ruft Jack. »Lassen Sie sie los.«
Wie das Einwickelpapier einer Tafel Schokolade oder wie ein fortgeworfener Lotterieschein wird der Hautfetzen vom Sturm gepackt und davongetragen. Ich blicke ihm nach, doch es wird fast augenblicklich von der Dämmerung verschlungen. Und ich stehe einfach nur da.
»Nun bist du verloren«, sagt der Lumpensammler, aber sein Urteil ist nur ein schwaches Flüstern.
Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich im Regen auflöse. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich vom Wind davongetragen werde, in den Schatten verschwinde. Ich spüre nur Jacks Arm um meine Taille.
»Nein«, sagt er. »Sie sind verloren.«
Der Lumpensammler steht ganz allein wenige Schritte von mir entfernt auf dem Landesteg, aber die Dämmerung lässt seine Umrisse verschwimmen, verwandelt ihn in eine gespenstische Vogelscheuche aus flatternden Fetzen.
Ich weiß nicht, ob es Jacks Arm um meine Taille ist, der mich auf dem Landesteg festhält, der meine Verbindung zum Strand und zu Endhaven aufrechterhält, zu meinem Leben, meiner Zukunft. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch irgendwo verankert bin, aber so kalt und beißend die Dämmerung auch sein mag: Ich weiß, dass ich keine Angst mehr habe.
»Ich möchte Ihnen noch etwas sagen«, ruft Jack. »Eine Kleinigkeit, die Ihnen zu denken geben sollte.«
Wir schreiten rückwärts über den Landesteg, und der zerlumpte, knochige Lumpensammler folgt uns, vom Wind geschüttelt.
»Ihr Vertrag ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben steht«, fährt Jack fort. »Glauben Sie wirklich, das seien die Seelen von Endhaven? Sind Sie sicher, dass es nicht ... einfach nur Zeichen sind? Vielleicht gibt es in mir gar keine geheime Essenz, und auch nicht in Ihnen oder irgendjemand anderem — nichts außer der Freiheit, uns selbst entscheiden zu können. Keine Sklaven und Herren der Seele, nur Huren und Politiker. Denken Sie darüber doch mal nach, wenn Sie spüren, wie Ihnen der Vertrag unter die Haut geht. Aber natürlich kann ich mich auch irren. Was meinen Sie?«
Während wir uns umwenden, um davonzugehen, blickt uns der Lumpensammler mit Augen hinterher, die zehnmal menschlicher wirken als sein monströses Gesicht es vermuten lässt.
Die Nacht ist nur noch Dunkelheit
»Bist du wach?«, fragt Jack
»Jetzt schon«, sage ich. »Wie viel Uhr ist es?«
»Ungefähr Mitternacht. Komm mal her und schau dir das an.«
Er hat den Musselinvorhang leicht angehoben, eine Silhouette im Mondschein. Das ist das Erstaunliche daran. Hat man die Dämmerung erst einmal überwunden, ist die Nacht nur noch Dunkelheit, mit ihren ganz eigenen Geheimnissen vielleicht, aber nicht mehr. Und doch zögere ich. Jenseits des Musselinvorhangs lauert eine Welt, die nichts für uns übrig hat, für keinen von uns.
»Es ist zu kalt«, sage ich. »Du musst dir
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