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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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nur einen kurzen Abstecher in die Vorstädte unternommen, um mit dem Inhalt dieses Schmuckkästchens oder jenes Schnapsschränkchens zurückzukehren. Bald wird er nach mir suchen.
    Ich brauche nur ein Wort des Zuspruchs, und dann bin ich wieder auf dem Damm. Ganz sicher. Aber Jack schläft weiter.
    »Jack«, flüstere ich. »Jack ... wach auf.«
     
    Vielleicht will ich ja gar nicht, dass er aufwacht. Ich weiß nicht, warum ich ihn nicht einfach rüttele, warum ich nicht ein wenig lauter spreche. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass das Läuten der Glocken mir das letzte Bisschen Selbstvertrauen raubt, das ich während dieses Nachmittags einfacher Sinnesfreude gefunden habe. Ich kann den Schauer nicht abschütteln, der während des Traums über mich gekommen ist. Bleiben wir wirklich nur deshalb im sich immerfort verschiebenden Urgestein dieser Erde verankert, weil wir uns aneinander erinnern, weil wir einander haben? Jetzt bist du bei uns, und alles wird gut. Aber ich habe nur Jack.
    »Jack«, flüstere ich, aber meine Stimme ist fast unhörbar und völlig ausdruckslos.
     
    Ich schlüpfe aus dem Bett und stehe bibbernd auf dem nackten Holzboden. Schweigend ziehe ich mich an. Ich habe, nun ja, eine Theorie. Ich meine, jeder hat eine Theorie darüber, was mit der Welt los ist. Manche Leute sagen, die Dämmerung sei in Wirklichkeit eine Flut dieser kleinen Nanoteilchen — winzige Kreaturen, die so klein sind, dass Millionen von ihnen auf einem Stecknadelkopf tanzen oder wie Staubkörner in der Luft schweben können, und dass sie geschaffen wurden, um uns zu heilen, wenn wir krank sind, oder um uns mit mikroskopisch kleinen Augen zu beobachten, medizinische oder militärische Technologie, die sich verselbstständigt hat. Vielleicht haben sie unseren angeschlagenen Geisteszustand zu heilen versucht, indem sie unsere Erinnerungen an die Schmerzen gelöscht haben, die uns zu dem machten, was wir sind. Vielleicht wollten sie uns das geben, wonach wir uns ihrer Meinung nach sehnten, in den Träumen unserer verlorenen Kindheit oder in unseren blutrüstigen Rachephantasien. Vielleicht wollten sie die Welt zu etwas machen, nach dem wir uns alle sehnten, ohne zu begreifen, dass unsere Sehnsüchte unterschiedlich ausfallen könnten. Eine übereinstimmende Wahrnehmung der Wirklichkeit ist nur möglich, wenn alle einvernehmlich dazu beitragen.
    Aber ich habe auch noch eine andere Theorie, und die macht mir wirklich Angst. Also — ich glaube, wir sind tot. Ich glaube, wir sind tot, und es gibt keinen Gott, es gibt weder Himmel noch Hölle, nur das Flickwerk unserer Erinnerungen an das Leben und die Weigerung zu begreifen, was wirklich mit uns los ist. Wir können uns nicht eingestehen, dass wir tot sind, denn dann bestünde die Gefahr, dass wir endgültig dem Vergessen anheimfallen. Ich glaube, dass die Dämmerung jenen Teil von uns repräsentiert, der sich nach endgültigem Frieden sehnt. Aber allzu oft denke ich darüber nicht nach.
    Als ich fertig bin, küsse ich Jack auf die Wange und schleiche mich leise aus dem leeren Haus hinaus.
     
     
    Die Abrechnung
     
    Es regnet, und die unbefestigte Straße, die aus der Stadt hinausführt, verwandelt sich unter meinen Füßen in ein Schlammloch. Der grelle Schein der Beleuchtung, der durch die Ritzen in den Wänden der Scheune des Lumpensammlers dringt, zeigt, dass er zu Hause ist, und so spucke ich den Regen aus, der sich in meinem Mund angesammelt hat, und stapfe der Stunde der Abrechnung entgegen. Der Wind peitscht durch das grobfaserige Gras, und die weißen Windmühlen drehen sich rasend schnell.
    Das Tor steht weit offen, Kette und Vorhängeschloss hängen lose herab, und zum ersten Mal in meinem Leben betrete ich die riesige Scheune alleine. Ich habe den Eindruck, dass sie so groß ist wie ein kleiner Flugzeughangar, und mittendrin — zwischen all den Regalen, die an die Scheunenwände montiert sind — steht eines der pastellfarbenen Plastikfertighäuser. Von all den Sachen, die der Lumpensammler in seinem Lager gehortet hat, kann ich überhaupt nur ein oder zwei erkennen, einen Kleiderschrank aus Eiche und einen Engel aus Stein, und an beiden läuft Regenwasser herunter. Alles andere ist in schweres durchsichtiges Plastik eingehüllt wie tote Fliegen in einem Spinnennetz. Wind und Regen heulen durch Hunderte von Löchern in Dach und Wänden, kein Wunder also, dass der ganze wertlose, unbezahlbare Plunder vor den Elementen geschützt werden muss.
     
    Der Lumpensammler

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