Venus allein zu Haus
Sorgen anhören, aber immerhin hat er alles, was ich sonst noch brauche: »Einen trockenen Weißwein und einen goldenen Tequila.« Sein Gesicht zuckt nur ganz kurz, dann hat er sich wieder unter Kontrolle. Dafür sieht er mich jetzt durchdringend an. Das kenne ich schon. Trotz meiner beinahe dreißig (in zwei Monaten ist es so weit) sehe ich, zumindest in Jeans und mit (heute ausnahmsweise) wenig Make-up und zwei blonden Zöpfen hinter den Ohren aus, als dürfe ich noch nicht Auto fahren. Eventuell Mofa. Kein Witz. Ich bin nicht viel größer als eine Parkuhr. In meinem Personalausweis steht ein Meter dreiundsechzig, da kann man aber getrost vier Zentimeter abziehen. Meine körperliche Entwicklung ist ebenfalls mit fünfzehn Jahren stehen geblieben, die großen blauen Augen und die sommerbesprosste Himmelfahrtsnase vervollständigen das Kindchenschema.
»Ich weiß, ich sehe jung aus, aber ich bin neunundzwanzig. Willst du meinen Ausweis sehen«, blaffe ich ihn an.
»Äh, nicht nötig«, sagt er eingeschüchtert, »kommt sofort.« Während ich warte, erscheint Sophia neben mir auf der Bildfläche. Die kann ich im Moment gar nicht gebrauchen. In ihrem tadellos sitzenden hellgrauen Nadelstreifenkostüm steht sie neben meinem Barhocker und sieht mich mit einer Mischung aus Verständnis, Mitgefühl und elterlicher Strenge durch ihre Brillengläser an. Ich wende mich unwillig von ihr ab. Ich will jetzt nicht reden. Zum wiederholten Male verfluche ich meine Psychotherapeutin Sabine Klein, die mir Sophia aufgehalst hat. Denn Sophia ist meine innere Therapeutin. Seit der Stunde, in der mir Sabine Klein davon erzählt hat, dass wir alle einen Therapeuten in uns tragen, läuft mir Sophia nach wie eine Klette. Ständig hinterfragt sie, was ich tue, warum ich es
tue und was ich dabei fühle. Zugegeben, sie kann auch mal nützlich sein, aber meistens geht sie mir auf die Nerven. Jetzt zum Beispiel. Ich konzentriere mich ganz fest auf die Getränke, die gerade vor mich auf den Tresen gestellt werden und Sophia verpufft. Ja, ich habe immer noch die Kontrolle, denn schließlich ist sie ein Teil von mir. Und Kontrolle ist mir wichtig!
In der nächsten Dreiviertelstunde trinke ich eine Flasche Wein und vier Tequila. Da sieht die Welt doch gleich ganz anders aus. Verschwommen und trostlos. Was stimmt denn nicht mit mir? Warum muss so etwas ausgerechnet mir passieren?
Das hätte ich vielleicht nicht fragen sollen, denn solche Fragen rufen Sophia auf den Plan. Sie lässt sich auf dem Hocker neben mir nieder, schlägt die Beine übereinander und sieht mich durchdringend an, während ich mich schon leicht windschief am Tresen festklammere und Zimt von meinem Handrücken schlabbere. Und dann fängt sie an, mich voll zu labern:
»Okay, Helen, lass uns darüber sprechen!« Nein, ich will nicht darüber sprechen. Verschwinde. Meine Therapeutin schüttelt bekümmert den Kopf über meine Uneinsichtigkeit:
»Helen«, sagt sie mit dieser sanften, einlullenden Stimme, »zunächst einmal möchte ich dir sagen, dass deine Reaktion auf diese Geschichte völlig normal ist.« Danke. Da fühle ich mich so viel besser. Ich werfe ihr einen scheelen Blick von der Seite zu, doch sie lässt sich nicht beirren und fährt ungerührt fort: »Wir Menschen reagieren alle gleich auf Ausnahmesituationen. Die erste Phase ist die des Schocks, wie du sie eben erst erlebt hast. Und dann kommt die Verdrängung. Verdrängung ist ein Mittel der Psyche, dich funktionsfähig zu halten, wenn du die Wahrheit nicht
ertragen könntest, ohne dass deine Lebensfähigkeit massiv beeinträchtigt würde.« Ich verdränge überhaupt nichts. Ich will nur nicht darüber reden. Langsam werde ich wirklich sauer. »Aber, liebe Helen, du wirst weiterleben. Es ist eine irrationale Angst von dir zu glauben, dass du diese Kränkung nicht überleben kannst.« Wer hat denn was von Sterben gesagt? Ich doch nicht. Und überhaupt, ich bin nicht gekränkt. Im Gegenteil, es geht mir blendend. Energisch kippe ich mir einen weiteren Tequila die Kehle hinunter. Er schmeckt genauso schlimm wie die davor, aber mir fehlt die Kraft, das durch etwaiges Schütteln zu kommentieren. Wenn Sophia doch endlich die Klappe halten würde. Ich bekomme Kopfschmerzen von ihrem Gelaber. Aber nein, sie denkt überhaupt nicht daran: »Du musst es aussprechen. Stell dich den Tatsachen, erst dann kannst du es verarbeiten. Komm, Helen, du schaffst es. Sag, wie es ist. Sprich es aus und nimm ihm den Schrecken.« Ich starre
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