Venusblut - Schreiner, J: Venusblut
Unbewusst massierten ihre Finger ihre Schläfen und schienen so eine Erinnerung erzwingen zu wollen. Vergebens.
Sie hatte keine Ahnung! Obwohl sie wirklich und wahrhaftig wach war, wusstesie immer noch nichts über sich oder ihre Situation, erinnerte sich nur an ihren Traum und daran, dass er einer anderen, geliebten Person gehört hatte. Bei dem Gedanken sah sie auf; es musste doch jemanden geben, mit dem sie hier war? Doch niemand war in ihrer Nähe und niemand schien sich übermäßig für sie zu interessieren. Ein zweiter prüfender Blick ergab, dass sie auch keinen Koffer besaß. Keinen Rucksack und kein andersartiges Gepäckstück.
Aber was mache ich an einem Flughafen, wenn ich nicht verreise?
Sie stand auf, als könne ihr bereits ihre Größe einen besseren Überblick über die gesamte Situation geben, und drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Nichts. Nur der allgemeine Flughafenbetrieb. Sie musste eingeschlafen sein. Vielleicht hatte sie sogar ihren Flug verpasst – und den Koffer längst abgegeben?
Wie von selbst gruben sich ihre Hände in die Taschen der fremden Jacke und beförderten eine Kaugummipackung hervor, ein Bonbon und ein einzelnes, benutztes Taschentuch, das sie achtlos in den Papierkorb neben sich warf. Die Innentasche war gänzlich leer und nie benutzt worden. Sie war sogar noch zugenäht. In ihrer Hosentasche fand sie ein Handy.
Gott sei Dank!
Gekonnt flogen ihre Finger über die Tasten, prüften das Adressbuch und die Anrufliste – beides war leer. War entweder nie benutzt worden oder musste vor kurzem gelöscht worden sein. Sie musste sich zusammenreißen, das Stück Technik nicht in ein Stück Schrott zu verwandeln, indem sie es auf den Boden warf.
Abermals drehte sie sich um ihre eigene Achse und versuchte die aufkeimende Panik in ihrem Inneren niederzukämpfen. Mit beinahe schmerzlicher Sicherheit wusste sie, dass sie solch eine Situation bereits erlebt, sie überlebt hatte und sich auch dieses Mal wieder erinnern würde. Früher oder später. Und passieren konnte ihr nichts. Sie war in Sicherheit, auf einem Flughafen.
Düsseldorf!
Das Wissen war da, plötzlich und ungefragt. Ebenso das Wissen um das aktuelle Datum, um Jahreszeiten, politische Ereignisse und – wieder wanderten ihre Hände zu ihren Schläfen – im Prinzip um alles, außer sich selbst.
Die Toilette!
Das Schild schräg vor ihr wurde plötzlich heller und einladender, versprach zumindest einen Spiegel und einen optischen Erinnerungsanreiz. Trotz ihrer aufmunternden Gedanken waren ihre Beine wackelig, als sie aufstand, und bei jedem Schritt drohten sie ihr ihren Dienst zu versagen. Einzig ihre Willenskraft zwang ihre Füße dazu weiterzugehen, ihre ungelenken, fremden Finger dazu, die Tür zu öffnen und sich selbst vor die Spiegel des Waschraumes zu stellen.
Ein sehr bleiches, unbekanntes Gesicht mit Augen, die viel zu groß und starr waren, sah ihr entgegen. Dasselbe junge Gesicht wie aus dem Traum – und doch nicht das gleiche –, mit einer etwas zu großen Nase, einem kleinen Puppenmund, dessen Lippen im Moment zusammengepresst waren. Sie strich sich die halblangenHaare, schwarz gefärbt und zu einem schrägen, flotten Bob geschnitten, zurück, legte zwei Ohren mit kleinen, silbernen Kreuzanhängern frei, und versuchte, sich an sich selbst zu erinnern. Doch da war nichts, nur die Ähnlichkeit mit der Frau aus dem Traum. Wo eigentlich die Erinnerung an ihre Person sein sollte, klaffte eine Lücke in ihrem Geist; instinktiv schreckte sie zurück, sicher, wenn sie sich zu nahe an den Rand dieses schwarzen Lochs wagen würde, könnte es sie aufsaugen – und dann würde nichts mehr bleiben, nicht einmal mehr die Erinnerung an die gängigen Werte, Normen und Gesetze. Nichts von dem allgemeinen Wissen, das sie zurzeit in sich trug, aber nicht verwerten konnte, weil ihr jegliche Bezugsgröße in ihrer Realität fehlte.
Eine einzelne Träne trat aus ihrem rechten Auge und rollte ihre Wange hinab. Im Spiegel konnte sie sehen, wie der Tropfen eine feuchte Spur auf ihrer bleichen Haut hinterließ und an ihrem Mundwinkel hängen blieb. Entschlossen wischte sie die Träne weg und verharrte mitten in der Bewegung. Durch das Hochheben ihres Armes war die Jacke verrutscht und die Ärmel hatten ihr Handgelenk freigegeben – zusammen mit einem dünnen, weißen Plastikband.
Eine Sekunde lang starrte sie ungläubig auf das unerklärliche Ding an ihrem Arm, doch gerade als sie die Jacke hochkrempeln wollte, ging die Tür
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