Venusbrüstchen: Roman (German Edition)
ihr verloren habt. Aber wir könnten trotzdem versuchen, ein wenig zu einer Familie zusammenzuwachsen. Auch ich wünsche mir eine Familie, es wäre doch schön, wenn wir …«
»Warum hast du dann nicht geheiratet und dir selbst Kinder angeschafft, als noch Zeit war?«
»Es läuft eben nicht immer alles so im Leben, wie man es sich vorstellt.« Judith lächelte angestrengt.
»Ich mag auf jeden Fall jetzt kein Frühstück. Und ich mag auch dieses Familiengetue nicht. Mit Margareth und Philip war es sehr einfach. Die schliefen immer bis in die Puppen, und Sonntagmittag gingen wir meistens zum Essen aus.«
»Das kann ich mir leider nicht leisten, Claudia.«
»Wieso? Du kriegst doch Geld für uns? Du bist doch so eine Art Pflegestelle?«
Sie war doch so eine Art Pflegestelle … »Wie du meinst«, antwortete sie und hatte einen Kloß im Hals.
Auf der Treppe blieb sie kurz stehen. Sie sah durch die geöffnete Küchentür Oliver allein an ihrem liebevoll gedeckten Tisch sitzen; er nuckelte an seiner Cola und zerbröselte den Kuchen, während Rasputin am Honig schnupperte und die Serviettenringe anknabberte. Sie presste die Lippen zusammen. Blöde Gans, dachte sie. Hast du erwartet, dass alles vom ersten Tag an klappt?
Am nächsten Tag fuhr sie die Kinder in das nahegelegene Schwimmbad. Es war heiß. Büsche und Bäume, die die kleine Alleestraße säumten, standen unbeweglich und grau vom Staub. Es roch nach Teer und Auspuffgasen, und Judith blies ihre Haare aus dem Gesicht und wünschte sich ans Meer.
»Ich hole euch um drei Uhr ab. Dann gehen wir Eisessen, wenn ihr wollt.« Sie lächelte schüchtern und öffnete die Wagentür.
»Es eilt nicht. Wir können uns auch etwas im Schwimmbad kaufen.«
»Ich will euch aber einen Eisbecher spendieren, so groß wie im Schlaraffenland. Und, bitte, passt auf. Könnt ihr eigentlich schwimmen?«
»Schwimmen ist heute Unterrichtsfach. Jeder Idiot kann schwimmen.«
»Es kann auch gefähr…« Judith hielt erschrocken inne. Was redete sie nur für Unsinn! Und dabei war es noch kein Jahr her, seit Margareth und Philip ertranken. Sie sah in Olivers abweisendes Gesicht und zog die Wagentür verlegen zu.
»Wenn sie ein schlechtes Gewissen hat, sieht sie aus wie siebzig«, sagte Steffi. »Hast du das Armband gesehen, das sie trägt?« Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen dem Auto nach.
»Ja. Sicher.«
»Es gehörte doch Mami?«
»Sie hat es geerbt.«
»Wieso?«
»Weil es ein altes Familienstück ist, das immer die älteste Tochter kriegt oder so ähnlich.«
»Es gehörte aber Mami.« Steffis Sommersprossen leuchteten. Sie war blass. »Und die älteste Tochter bist doch du.«
»Ich mache mir nichts aus diesen altmodischen Klunkern. Außerdem – vielleicht steht Judith der Krempel wirklich zu. Schließlich kümmert sie sich um uns. Oder hättest du in ein Heim gewollt?«
»In einem Heim steht nicht ständig eine dusslige Tante hinter dir und passt auf.«
»Du hast wohl zu viele Internats-Romane gelesen. In einem Heim gibt es Lehrer und Erzieherinnen, und du teilst dein Zimmer mit ein paar anderen. Kein sehr angenehmer Gedanke, wenn du mich fragst.«
»Und ich könnte meine Hamster nicht mitnehmen.«
»Nein. Die könntest du getrost vorher abmurksen. Die will in so einem Saftladen wirklich kein Aas haben. Gehen wir?«
Oliver nahm Claudias Hand und streckte Steffi die Zunge heraus. Ehe er seine Hamster abmurkste und in ein Heim ging, murkste er lieber seine sommersprossige Schwester ab.
Judith führte inzwischen zwei äußerst aufschlussreiche Unterredungen. Nachdem sie Oliver bereits vor Tagen in der nahegelegenen Grundschule angemeldet hatte, sprach sie nun mit dem Rektor des Gymnasiums, das Claudia und Steffi besuchen sollten. Der Rektor war ein breiter, jovialer Mann, er trug den Hemdkragen offen und bedauerte es sehr, an diesem sonnigen Ferientag im Sekretariat der Schule sitzen und diese etwas sonderbare Mutter beraten zu müssen.
Ja, in dieser Ausnahmesituation könne man die beiden Mädchen durchaus noch unterbringen. Mit welchen Sprachen denn begonnen worden sei? Mit Latein oder Englisch? Sie wisse es nicht? Nun, dies sei aber sehr, sehr wichtig. Man bitte noch um Benachrichtigung.
Das zweite Gespräch fand in der vornehmen Augusten-Bücherei statt. Eine junge, stark geschminkte Verkäuferin blickte etwas ungeduldig an Judith vorbei.
»Nein, ich verstehe eigentlich nicht, was Sie wünschen, gnädige Frau.«
»Ich möchte gerne ein Buch über Erziehung
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