Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
zu verhindern.«
»Nick geht es immer um Gerechtigkeit«, sagte Leo und klang nicht begeistert.
»Und du brauchst einen Idealisten wie ihn. Sonst gehst du unter auf deinem Dampfer der Reichen und der Schönen.«
»Danke«, sagte Leo. »Erzähle mir lieber von Jef.«
Vera guckte auf die Klematis, die auf einmal voller kleiner Blätter war und begonnen hatte, sich an einem Kabel entlangzuranken, das über die Hauswand gelegt war.
»Dein Nachbar liebt Buchsbäume.«
Sechs hohe Buchsbäume, die einen dürftigen Sichtschutz abgaben. Die Terrasse nebenan wirkte leblos.
»Was meinst du?«, fragte Vera. »Soll ich Markisenstoff kaufen und ihn dort aufspannen?«
»Keinen Blick mehr auf die Buchsbäume?«
Vera schüttelte den Kopf.
»Warum keine dichte Rosenhecke?«, fragte Leo und grinste. Sie schwenkte ihr leeres Glas und schien gewillt, einen dritten Gin Tonic zu trinken.
»You will be wonderfully drunk«, sagte Vera.
Leo ignorierte den Einwand mit einer Handbewegung.
»Wann können wir endlich über Jef reden?«
Das war alles, was sie dazu sagte.
Vier Stiefmütter hatte Jef Diem verschlissen. Keine von ihnen war in der Lage gewesen, ihm die Frau zu ersetzen, die vor den Augen des Zwölfjährigen in einem kleinen belgischen Seebad ins Meer ging und nicht zurückkehrte. Die Leiche seiner Mutter wurde Tage später sechzig Kilometer nordöstlich von ihrem Ferienort angeschwemmt. Die Strömung war stark, seine Mutter keine gute Schwimmerin. Ein Badeunfall.
Jef hatte immer daran gezweifelt. Marie Diem war zu unglücklich verheiratet gewesen, der Vater zu schnell getröstet. Vier Monate später schon war die erste der Stiefmütter angetreten. Jefs Vater betrachtete sich als Ehrenmann, stets zu einer schnellen Heirat bereit.
Er hielt sich keine Mätressen, wie er sagte.
Die Tage von Nieuwpoort, die dem Verschwinden seiner Mutter folgten, noch bevor ihre Leiche gefunden wurde, hatten ihn für immer von seinem Vater getrennt.
Sie lebten nebeneinander her, bis Jef neunzehn war.
Da kündigte sich gerade die vierte Stiefmutter an.
Nach einem ihrer ersten Besuche im väterlichen Haus zog Jef aus. Sie war nicht die erste der Frauen, die sich dem hübschen Jungen ganz unmütterlich näherte.
Er hatte sie immer abwehren können. Sie insistierten nicht. Doch diese vierte war anders. Eine Königin der Intrige, die es nicht duldete, Körbe zu kriegen.
Jefs Vater verdächtigte ihn, glaubte ihm nicht, enterbte ihn.
Es dauerte Jahre, bis Jef es geschafft hatte, dass sie zu Kreuze kroch. Da war sein Vater schon tot.
Hatte seine Mutter sich wirklich das Leben nehmen wollen? Hätte sie ihm das angetan? Was wäre aus seinem Leben geworden, wenn nicht diese Unsicherheit gewesen wäre, die ihn letztendlich unstet machte?
Jef Diem stand am Fenster und sah auf die Straße hinaus.
Drüben, auf einem der Balkone, setzte sich eine Familie zum Mittagessen. Eine karierte Decke lag auf dem Tisch.
Der Mann öffnete den Sonnenschirm und nahm Jef damit den Blick auf Vater, Mutter, Kinder. Jef bedauerte das.
Was waren das auf einmal für Sehnsüchte? Jahrelang hatte er jede Bindung gescheut. Keine gefunden, die er genügend liebte. Seine Mutter hatte alles mit ins Meer genommen.
Vera hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihr.
Marie Diem war dunkelhaarig gewesen und klein und zart.
Jef fand es beruhigend, dass er nicht deshalb liebte, weil er ihr Abbild gefunden hatte.
Er hatte Vera gestern Abend vermisst. Wenn sie auch nicht verabredet gewesen waren, hatte er doch gehofft, dass sie käme. Was machte sie an ihren Samstagabenden? Was machte sie am Sonntag? Ihre Mutter besuchen? Er wusste nichts von ihr. Alles war neu und noch in Gefahr vorüberzugehen, ehe es angefangen hatte.
Jef ließ das Telefon läuten. Lange in Veras Wohnung hinein läuten. Sein vierter Versuch seit morgens um elf. Es war sein freier Tag heute. Er wollte ihn mit Vera verbringen. Lindenterrassen. Bootsfahrten. Spaziergänge. Sonntag.
Er hatte eine endlose Sehnsucht nach Idyll.
Die kleine Karte, die sie ihm an den Spiegel gesteckt hatte.
Jef las die Adresse und hatte eine vage Vorstellung. Er war noch nicht lange in dieser Stadt. Doch er würde es finden.
Ihr einen Brief an die Tür kleben. Die Liebe erklären.
Vielleicht hatte er ihr zu wenig gesagt vorgestern.
Den alten Peugeot in Gang kriegen. Er hing an dem 404.
Das Haus war wohlhabend, wie er es sich vorgestellt hatte, und Vera noch immer nicht da.
Ein Kind kam aus der Tür und trug einen
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