Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
bunten Ball unter dem Arm, und Jef fing die fallende Eichentür auf und ging hinein. Erst im vierten Stock fand er Veras Namen.
Der Brief fiel durch den Messingschlitz, und er kehrte um und stand einem Mann gegenüber, den er nicht hatte kommen hören. Sie grüßten einander, und Jef stieg die Treppen hinunter und war überrascht, wie kühl es auf einmal war.
Vera hatte das Haus kurz vor elf verlassen und gezögert, zu welchem Bootssteg, welcher Caféterrasse sie gehen wollte, um zu frühstücken, ob sie nur auf einen der Kanäle gucken oder sich die ganze Alster gönnen wollte. Doch dann war sie zur Haltestelle der Hochbahn gegangen.
In der Station St. Pauli stieg sie aus und ließ sich eine kurze Zeit lang im Strom der Touristen treiben. Die Reeperbahn lag träge im Sonnenlicht des Sonntagvormittags und sah aus wie eine billige Kulisse und enttäuschte alle Auswärtigen.
Vera bog in die Große Freiheit ein, in der oft ihre Ausflüge in die nicht ganz so glanzvollen Gegenden der Stadt begannen, und ging in Richtung der alten Schlachthöfe. An einigen Ecken wurde es schon schick und teuer. Doch Vera suchte nach anderen Bildern, die sie sammelte, als klebe sie am Album einer spießigen, aber heimeligen Welt.
Vielleicht hatte sie von Anfang an zu verwöhnt gelebt und zu einsam, dass sie die gedrängte Nähe so faszinierte.
Auf Küchenstühlen vor den Häusern sitzen und schwatzen.
Kissen in Fenstern mit Ausblick auf den Hof. Kinder. Hunde. Kanarienvögel.
Vera erinnerte sich an Sonntage auf eleganten Terrassen.
Gustav Lichte war für Veras Großvater gehalten worden, und die Herren an den Nachbartischen warfen der vermeintlichen Tochter gierige Blicke zu. Nelly genoss es. Das Kind hatte sich dann oft eine hässlichere Mutter gewünscht.
Es verstand nicht, wie der Vater das alles ertrug. Manchmal geschah es, dass Gustav und Vera allein nach Hause gingen.
Nelly war schamlos. Ihr Gewissen weggeflirtet.
Dass Gustav Lichte sich erst zwei Jahre vor seinem Tod von seiner Frau trennte, verwunderte Vera bis zum heutigen Tag.
Ihretwegen hätte er nicht ausharren müssen.
Hinten Garten, stand auf dem Stück Pappe an der Tür. Vera schätzte solch knappe Ansagen. Sie trat in das dunkle Lokal und folgte dem Flecken Tageslicht am Ende des Flurs. Ein kleiner Garten. Von einer halbhohen Mauer umgeben, die ihn von den Hinterhöfen der anderen Häuser trennte. Sie setzte sich an einen Tisch, dessen Plastikdecke voller Brandlöcher war, und sah zu dem Mann und der Frau, die am Nebentisch saßen und Wein tranken. Es stimmte Vera zuversichtlich, dass noch andere in diesen Garten gefunden hatten.
Der kühle Wein kam in einer Karaffe. Das Brot war warm. Vera blieb Stunden im Garten, der sich langsam füllte.
Aß Oliven. Aß eingelegte Weinblätter. Gewann genügend Vertrauen, um einen Fisch zu essen. Trank viel Wein.
Warum dachte sie so viel an ihren Vater dabei? Weil sie Jef liebte, einen Mann, der ihm gar nicht ähnlich war? Zum ersten Mal werde ich dir untreu, Gustav, dachte Vera.
Sie verließ das Lokal kurz vor vier. Ging ein paar Schritte und wunderte sich, wie nah die Straße war, in der Jef wohnte.
Keine Antwort auf ihr Klingeln. Vera setzte sich auf eine Stufe der Vortreppe und wartete. Er war nicht weit. Sie wusste es.
Drüben auf einem der Balkone wurde ein Sonnenschirm zugespannt. Sie sah die Vase mit dem Delftermuster und den Narzissen, die auf einer karierten Decke stand, und steckte das Bild ein für ihr Album, das sie klebte.
»Der April hat uns wieder«, sagte Anni, »ist auch gar nicht gesund so ein vorgezogener Sommer.«
Sie stand an der Balkontür und hielt einen Besen bereit, um gegen die Markise zu drücken, sobald sich da oben zu viel Regenwasser sammelte. »Kümmert sich ja sonst keiner«, sagte Anni. Sagte es laut und für niemanden hörbar.
Sie war allein in der Wohnung.
Anni Kock hatte Nick angerufen, und nun hoffte sie, dass er gleich käme. Die Kurbel von der Markise klemmt, hatte sie gesagt und gemeint, dass Vera überhaupt nicht mehr zu Hause war. Am Montagmorgen hatte Anni auf dem kleinen Tisch in der Diele einen Zettel liegen sehen. Melde mich bald, stand darauf. Eine Telefonnummer und der Name dieses Klavierspielers. Im Notfall, hatte Vera noch gekritzelt. Wann fing der Notfall an? Wenn die Kurbel klemmte?
Anni hatte die letzten Tage damit verbracht zu versuchen, ihre Angst in den Griff zu kriegen. Es war ihr nicht gelungen.
Sie hielt nicht viel von Vorahnung, doch sie witterte
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