Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
Gefahr.
Hinten im Schlafzimmer herrschte Durcheinander. Vera hatte wohl hastig ein paar Dinge eingepackt. Der kleinste der Übernachtungskoffer fehlte.
Nur der Kleinste, dachte Anni. Sie trat auf den Balkon und drückte den Besen gegen die Markise. Das Wasser lief ab.
Hatte sie nicht gehofft, dass Vera etwas anfinge mit ihrem Leben? Späte Mutter von vielen Kindern würde, die alle auf Annis Schoß zu sitzen kämen? Was war das nur wieder für ein Hallodri, auf den Vera hereinfiel. Nick passte das auch nicht in den Kram. Anni spürte es in den Knochen.
So sehr in den Knochen, dass sie gar nicht schnell genug zur Tür kam, als es klingelte. Anni hielt sich das Kreuz, als Nick die letzte Treppe nahm. »Dass du endlich da bist«, sagte sie. Fing an, Ansprüche auf ihn zu erheben.
Sie führte ihn erst einmal zu der kaputten Kurbel. Wenn er die repariert hatte, konnte sie mit ihm bei einer Tasse Kaffee über Vera sprechen. Ihm den Zettel zeigen.
Nick ließ sich zwei Stück Zucker für den Kaffee aufdrängen, obwohl er ihn eigentlich schwarz trank. »Gut für die Nerven«, sagte Anni. Sie war gnadenlos in ihrer Güte.
»Was gibt es Neues von meiner toten Nachbarin?«, fragte sie. Doch Nick wusste nichts. Die Kripo murkste herum und hielt ihn auf Distanz. Pit hatte versprochen, sich zu melden, und Nick litt ein wenig an seinem schlechten Gewissen, weil er nichts von den Buchstaben auf den Hälsen der Toten gesagt hatte.
Hatten die denn nicht viel stärkere Lupen als er?
»Vera hat mir einen Zettel hingelegt«, sagte Anni.
Nick schaute von der Kaffeetasse auf, in der er endlos rührte.
»Name und Telefonnummer von diesem Klavierspieler.« Anni ahnte, dass die Eifersucht sie einte. Sie stand auf und zog den Zettel unter einer Dose Darjeeling von Twinings hervor.
Nick nahm den Zettel und las ihn. Las ihn ein zweites Mal.
Lächerliches Leben, das solche Zufälle produzierte.
Er lachte und klang hilflos dabei.
»Was ist los?«, fragte Anni.
Nick schüttelte den Kopf. Er wollte ihr nicht sagen, dass diese Buchstabenfolge ihn seit Tagen beschäftigt hielt.
Nein. Nick glaubte nicht einen Augenblick lang, dass Jef Diem mit den Morden zu tun haben könnte.
Vera hatte ihn wirklich unterschätzt.
»Last night when we were young«, sang Vera, als ahne sie, was ihr bevorstünde. »Today the world is old. You flew away and time grew cold«, sang sie und glaubte einen Augenblick lang, Gefahr zu spüren und hatte Fluchtgedanken.
Vielleicht sollte sie mit Jef nach Nizza gehen. War es in der Höhle der Löwin nicht am sichersten? Nelly würde Jef nicht interessieren. Sie war seinen Stiefmüttern zu ähnlich.
Vera schüttelte sich. Die absurden Gedanken abschütteln.
Jef blickte vom Klavier auf. Doch Vera glitt in die nächste Zeile des Liedes, als habe nichts sie abgelenkt.
Das vierte Mal, dass sie in der Bar sang. Manche der Gäste kamen schon ihretwegen. Doch Vera hatte das Angebot eines Engagements lachend abgelehnt. Sie wollte eine Gelegenheitssängerin sein. Es sollte Nächte geben, in denen sie auf Jef wartete und nicht gemeinsam mit ihm nach Hause kam wie ein altes Artistenpaar; die Kleider durchzogen vom Zigarettenrauch, müde und viel zu oft zusammen.
Eine Frau, die ihm die Tür öffnete. Ihn mit weiten Armen empfing. Hatte er nicht in der vergangenen Nacht von dieser Sehnsucht gesprochen, als er ihr sein Leben erzählte?
»Ages ago last night«, sang Vera.
Sie liebte den Applaus. Liebte das Strahlen in Jefs Augen, das Lächeln, mit dem er ihr Singen kommentierte.
Die kleine Angst kam doch nur in ihr auf, weil sie glücklich war. Durfte man dem Glück denn nicht trauen?
Vera ging an die Bar und setzte sich auf einen der Hocker und nahm den Laphroaig, den der Barkeeper ihr hinstellte. Jef spielte die ersten Takte von Just In Time.
Könnte sie einen Mann lieben, der nicht Klavier spielte?
Vera trank einen großen Schluck Whisky. Auf einmal saß sie nachts in Bars und gehörte beinah zum Personal. Auf einmal hatte sie einen Mann. Keine Liebelei. Eine Liebe. Auf einmal hatte sie viel zu verlieren. Was hatte Anni gesagt? Ich habe nur so ein komisches Gefühl. Alte Unke.
Vera sah das kleine Zeichen, das Jef ihr gab, und stand auf. Ich werde Anni immer ähnlicher, dachte sie, und dann lehnte sie sich an den Flügel und sah hinreißend aus.
Philip Perak war kein Fassadenkletterer. Ihm würde es nie gelingen, sich über eine Balkonbrüstung zu schwingen und die kleine Kluft zu überwinden, die zwischen den
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