Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
Spuren hinterlassen hatte.
»Die ganze Schminke im Kissen«, sagte Anni Kock. Sie war diejenige, die in diesem Haushalt wusch und bügelte. »Und das gute Kleid ist zerknüllt.« Sie pflückte das kleine Schwarze vom Parkett und versuchte, es glatt zu streichen.
»Schließ lieber die Vorhänge wieder«, sagte Vera.
»Wenigstens kein Kerl neben dir.« Anni Kocks Ton blieb vorwurfsvoll. Sie glaubte nicht an häufig wechselnde Bekanntschaften. Lag kein Segen drin.
Gewiegt und gewickelt hatte sie Vera. Ihr nicht gerade die Brust gegeben, aber doch die Flasche. Veras Mutter hatte keinen Tropfen aus sich herausbekommen. Konnte ja auch nicht gut gehen. Vierzig Jahre Altersunterschied zwischen Vater und Mutter. Da blieb einem schon mal die Milch weg.
»Beruhige dich«, sagte Vera, »ich liege ja allein.«
»Dürftest gern einen Prinzen bei dir haben. Einen für ewig.« Anni hatte das romantische Herz der Unverheirateten.
»Was hältst du von einem Pianisten?«, fragte Vera. Sie schlug die Decke zurück und zeigte weiße, aber schöne Aprilbeine.
Anni Kock drückte den Pashmina an sich, den sie hinter der Heizung gefunden hatte. Er war noch feucht. »Doch nicht den von nebenan?«, fragte sie in ehrlichem Entsetzen.
»Ist der Pianist? Kühler Finger. Ich hab ihn bisher nur Schönberg spielen hören und vielleicht noch Scarlatti.«
»Kenn ich nicht«, sagte Anni.
»Beide nicht fürs Herz«, sagte Vera. Sie griff den grauen Morgenmantel aus Mohair, ehe Anni ›Zieh dir was an, Kind‹ sagen konnte. Es war kalt in Hamburg. Vielleicht sollte sie nach Nizza fliegen und die liebe Mutter heimsuchen. Wenn Anni sie für flatterhaft hielt, war ihr Nelly wohl aus dem Sinn gekommen. Nelly Lichte hatte die Promiskuität geradezu erfunden.
»Was war das mit dem Pianisten?«, fragte Anni Kock. Wenn sie eines in ihren achtundsechzig Jahren gelernt hatte, war es, die Beute nicht aus den Zähnen zu lassen.
»Jef«, sagte Vera, »und höchstens vier Jahre jünger. Ich habe auf seinem Flügel gelegen und gesungen.«
Anni schüttelte den Kopf.
»Das Kleid war lang genug«, sagte Vera, »keine Blöße.«
»Du hast doch sonst immer Ältere gehabt.«
»Vielleicht versuche ich meinen Vaterkomplex zu kurieren.«
Vera ging auf das Badezimmer zu. »Kaffee«, sagte sie, »Kaffee wäre gut. Das löst die Zunge.« Sie musste noch betrunken sein. Was wollte sie erzählen? Dass sie dabei war, den Kopf zu verlieren, wegen eines hübschen Jungen mit dunklen Locken, der vielleicht erst Ende Zwanzig war? Zunge lösen. Kopf verlieren. Sie war wirklich kurz vor dem Zerfall.
An diesem Tag kam ihr nur das Teuerste ins Badewasser. Sprudeltabs, die Energie versprachen, Glück, ein langes Leben. Das Ergebnis war kein anderes als bei den Fichtennadeltabletten, die Anni immer hineingeworfen hatte, nur nicht so grün. Vera versenkte sich ins leicht getönte Wasser. Sie zog viel Schaum vor. Blickdicht. War nicht nötig, noch in der Wanne mit den Kilo zu viel konfrontiert zu werden.
Was hatte sie gestern gesungen, bevor sie in dieses Kätzchenlied geraten war? Here's to Life.
Sie lehnte sich zurück und hatte das kühle Porzellan der Wanne im Nacken und das Wasser in den Haaren. Guckte die weißen Kacheln an, die bis zur Mitte des hohen Raumes gezogen waren. Dort, wo sie endeten, hingen die goldenen Schallplatten. Es war nicht Veras Idee gewesen, sie da oben so ganz unprätentiös unterzubringen. Auch da war Gustav Lichte der geistige Urheber gewesen, Vera hatte in all den Jahren nach seinem Tod nichts daran geändert. Genauso wenig wie am korallenroten Säufersofa vorne in der Diele.
»There is no yes in yesterday«, sang Vera. Vielleicht sollte sie sich wirklich auf diesen Jungen einlassen. Neue Ufer.
»Nu is gut«, sagte Anni, »Kaffee ist fertig.«
Manchmal konnte Anni Kock sogar Englisch.
War es ein Glück für Vera, dass ihr das Geld vierteljährlich auf das Konto floss, ohne eine Mühe ihrerseits? Die vielen leichten Lieder, die ihr Vater im Laufe eines langen Lebens geschrieben hatte, ließen die Tantiemen bei der Gema täglich aufs Neue anwachsen. Papis Geldhaus. Das hatte Vera gesagt, da war sie ganz klein gewesen.
Papi hatte ihr das Geldhaus vererbt. Zwanzig Jahre war sie da alt, zu jung für ein Vermögen. Immerhin hatte sie nach seinem Tod noch ein Jahr am Gesang herumstudiert, im Gedenken an Gustav Lichte, der auf Konstanten in ihrem Leben gehofft hatte, einige andere noch als die Gema.
Es ist auf Erd kein schwerer Leiden, sang Vera.
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