Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
stand vor der Tür.«
»Wie viele Pianisten gibt es in deinem Leben?«, fragte Nick.
»Der da drüben könnte einen prachtvollen Ritualmörder abgeben«, sagte Vera. »Ich werde nachher zu ihm rübergehen und die Noten zurückbringen.«
»Da kannst du nicht all eine hin«, sagte Anni.
Vera lachte. »Ich bleibe vor der Tür stehen«, sagte sie.
»Da war doch noch eine Karte dran«, sagte Anni und ging hinaus in die Diele.
»Ich habe mir eine stärkere Lupe besorgt«, sagte Nick.
Vera sah ihn hoffnungsvoll an. Vielleicht hatten sie sich alles ja auch nur eingebildet, »Doch nur Kratzer?«, fragte sie.
Nick schüttelte den Kopf und verschob die Antwort, denn Anni kam in die Küche und legte eine Visitenkarte vor Vera hin.
Nur der Name. Keine Adresse. Keine Telefonnummer.
Vera drehte die Karte um und sah eine zierliche Handschrift und las den einen Satz, der dort geschrieben stand.
Ich möchte meine Musik mit Ihnen teilen.
Nick nahm ihr die Karte aus der Hand. »Warum wäre er ein prachtvoller Ritualmörder?«, fragte er.
»Er sieht aus wie Dracula, und ich habe einmal hohe Schreie einer Frau gehört, die sich bei ihm nicht wirklich wohlgefühlt haben kann. Lustschreie waren das nicht.«
Anni zog zwei dicke silberbeschichtete Handschuhe an. »Damit kannst du jeden Schrei dämpfen«, sagte sie und holte die Auflaufform aus dem Backofen.
»Du scheinst ausnahmsweise gar nicht geschockt zu sein«, sagte Vera und sah ihre alte Kinderfrau an.
»Ich kannte auch mal einen Perversen«, sagte Anni, »der hat seinen Damen mit einer heißen Nähnadel ein kleines Muster eingestickt. Als Brandmal sozusagen.«
Vera und Nick tauschten einen Blick, den Anni auffing.
»Ist doch vierzig Jahre her, Kinder«, sagte sie, »und ich hab es nur bei einer der Damen gesehen, als wir am Lütjensee baden waren. Braucht ihr euch nicht aufzuregen.«
»Und diesen Perversen? Kanntest du den auch?«
»Gepflegter Mann«, sagte Anni und tat große Portionen vom Auflauf auf die Teller.
»Goebbels soll auch ein gepflegter Mann mit sehr schönen Kamelhaarmänteln gewesen sein«, sagte Nick.
»Das kann man nicht vergleichen«, sagte Anni, »wie kommst du denn nur auf den?«
»Der gepflegte Teufel«, sagte Nick.
»Hört auf«, sagte Vera. Sie kaute auf einer heißen sahnigen Kartoffelscheibe und dachte über Brandmale und Tattoos nach. Vielleicht irrten sie sich. Vielleicht waren unter der starken Lupe ganz andere Buchstaben zu sehen.
Wenn ich mir was wünschen dürfte, dachte Vera, dann wäre es kein D. Kein I. Kein E. Kein M.
In der letzten Nacht hatte sie gleich im ersten Augenblick des Erstaunens gedacht, dass ein Mörder kaum je seinen Namen an den Opfern zurückließe.
Welch eine lächerliche Koinzidenz.
Die sie vor Nick verschweigen würde.
Philip Perak liebte die kleinen Inszenierungen. Er füllte damit die leeren Tage und Nächte, in die er entlassen worden war, nachdem seine Mutter an einem Augustmorgen des vorigen Jahres tot in ihrem Bett gelegen hatte. Ola Perak war keine liebevolle Frau gewesen, doch sie hatte sich an ihrem Sohn festgebissen, der sich vierzig Jahre lang kaum mit der Sorge um ein eigenes Leben quälen musste. Er hatte keines.
Nach einigen Tagen der Trauer war er erstaunt gewesen, dass er überhaupt in der Lage schien, Entscheidungen zu treffen, und wenn es auch wahr wurde, was seine Mutter vorausgesagt hatte, dass es ihm kaum gelang, einer täglichen und sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, so fand er doch bald einen Inhalt. Denn das Klavierspiel genügte ihm nicht.
Er hatte es viele Jahre lang getan, um Ola zu erfreuen, die ihren liebsten Pianisten von einem großen Publikum fern hielt, wie versponnene Sammler von ausgesuchten Werken der Malerei es manchmal tun, wenn sie ihre Schätze vor allen gierigen Blicken verbergen. Doch Philip Perak wusste, dass er noch was anderes wollte von diesem Leben.
Er entsann sich seiner Sexualität.
Sie hatte nur selten stattgefunden. Der Sechzehnjährige erlebte eine hohe Zeit, als Ola Perak einen Kuraufenthalt durchlitt, wie sie damals sagte, und ihn nur ungern in die Hände einer Freundin gab. Er hatte sich oft zurückziehen dürfen. Die alte Dame war entzückt gewesen, dass er ihre persische Katze in sein Zimmer lockte. Ein Tierfreund kam ihrem Herzen gleich näher.
Philip Perak lebte von Inszenierung zu Inszenierung. Leider misslangen sie ihm oft. Es fiel ihm schwer, dann gelassen zu bleiben. Wie bei der drallen Dame, die nicht mal die Schuhe von Kélian aushielt
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