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Verblendung

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Titel: Verblendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stieg Larsson
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Harriet verschwand. Erst kam das letzte Bild von Harriet, auf dem Umzug des Kindertages in Hedestad. Dann folgten gut hundertachtzig gestochen scharfe Fotos vom Tanklasterunfall auf der Brücke. Er hatte das Album schon früher mehrmals Bild für Bild sorgfältig mit dem Vergrößerungsglas durchgesehen. Jetzt blätterte er zerstreut darin herum. Er wusste, dass er nichts Neues mehr finden würde. Plötzlich fühlte er sich des Rätsels um Harriet Vanger überdrüssig und schlug das Album mit einem Knall zu.
    Ruhelos ging er ans Küchenfenster und starrte in die Dunkelheit.
    Dann sah er wieder das Fotoalbum an. Er konnte das Gefühl nicht recht erklären, aber plötzlich hatte er einen flüchtigen Gedanken, ganz so, als würde er auf etwas reagieren, was er gerade gesehen hatte. Es war, als hätte ihm ein unsichtbares Wesen vorsichtig ins Ohr gepustet, und seine Nackenhaare stellten sich ganz leicht auf.
    Er ging es Seite für Seite noch einmal durch, jedes Bild von der Brücke. Er sah sich die jüngere, ölverschmierte Ausgabe von Henrik Vanger an und einen jüngeren Harald Vanger, den er bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Das kaputte Brückengeländer, die Gebäude, Fenster und Fahrzeuge. Unter den Zuschauern konnte er problemlos eine zwanzigjährige Cecilia Vanger identifizieren. Sie trug ein helles Kleid und eine dunkle Jacke und war auf ungefähr zwanzig Bildern im Album zu sehen.
    Plötzlich wurde ihm heiß. Über die Jahre hatte Mikael gelernt, sich auf seinen Instinkt zu verlassen. Er hatte auf irgendetwas in diesem Album reagiert, aber er konnte nicht genau sagen, worauf.
     
    Er saß immer noch am Küchentisch und starrte auf die Bilder, als er gegen elf die Haustür aufgehen hörte.
    »Darf ich reinkommen?«, fragte Cecilia. Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich ihm gegenüber an den Küchentisch. Mikael hatte ein seltsames Déjà-vu-Gefühl. Sie trug ein weites, dünnes, helles Kleid und eine graublaue Jacke, fast identisch mit der Kleidung, die sie auf den Bildern von 1966 anhatte.
    »Entschuldige, aber du hast mich überrascht, als du heute Abend geklopft hast. Jetzt bin ich so unglücklich, dass ich nicht schlafen kann.«
    »Warum bist du unglücklich?«
    »Begreifst du das denn nicht?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Kann ich es dir erzählen, ohne dass du mich auslachst?«
    »Ich verspreche dir, ich werde nicht lachen.«
    »Es war eine spontane Idee von mir, als ich dich im Frühjahr verführte. Ich wollte einfach nur Spaß haben. Nichts weiter. An diesem ersten Abend war ich einfach nur ziemlich angetrunken, und ich hatte nicht vor, irgendetwas Längerfristiges mit dir anzufangen. Dann wurde es aber zu etwas anderem. Ich möchte, dass du weißt, dass die Wochen, in denen du mein occasional lover warst, zu den schönsten Wochen meines Lebens gehören.«
    »Ich fand sie auch sehr schön.«
    »Mikael, ich habe dich und mich die ganze Zeit angelogen. Ich war niemals besonders freizügig in sexueller Hinsicht. Ich habe in meinem ganzen Leben fünf Sexpartner gehabt. Einmal mit einundzwanzig Jahren, bei meinem ersten Mal. Dann mit meinem Mann, den ich mit fünfundzwanzig kennenlernte und der sich als Ekel herausstellte. Und seitdem einige Male mit drei Typen, die ich im Abstand von ein paar Jahren traf. Aber du hast irgendetwas in mir geweckt. Ich konnte einfach nicht genug kriegen. Das hatte damit zu tun, dass mit dir alles so zwanglos war.«
    »Cecilia, du brauchst nicht …«
    »Schhhh, unterbrich mich nicht. Sonst kann ich es nicht erzählen.«
    Mikael verstummte.
    »Der Tag, an dem du ins Gefängnis gingst, war der unglücklichste Tag meines Lebens. Mit einem Mal warst du weg, als ob du nie hier gewesen wärst. Es war dunkel im Gästehäuschen. Es war kalt und leer in meinem Bett. Ganz plötzlich war ich wieder nur eine sechsundfünfzigjährige ältere Frau.«
    Sie schwieg einen Moment und blickte Mikael in die Augen.
    »Ich habe mich im Winter in dich verliebt. Das hatte ich nicht vor, aber es ist passiert. Und plötzlich wurde mir klar, dass du nur zufällig hier bist und eines Tages für immer fort sein wirst, während ich den Rest meines Lebens hierbleiben werde. Das tat so verflucht weh, dass ich beschloss, dich nicht mehr in mein Haus zu lassen, wenn du aus dem Gefängnis zurückkämst.«
    »Das tut mir leid.«
    »Es ist nicht dein Fehler.«
    Eine Weile blieben sie schweigend sitzen.
    »Als du heute Abend wieder gegangen warst, saß ich zu Hause und heulte. Ich wünschte, ich

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