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eine sonderbare Reaktion bei Harriet ausgelöst.«
In der nächsten Woche arbeiteten Mikael und Lisbeth nahezu ununterbrochen am Fall Harriet. Lisbeth las weiter im Untersuchungsbericht und bombardierte Mikael mit Fragen. Es konnte nur eine Wahrheit geben, und jede Unklarheit und ungenaue Antwort führte zu einer abermaligen Prüfung ihrer Überlegungen.
Lisbeth war Mikael zunehmend ein Rätsel. Obwohl es stets so aussah, als würde sie den Bericht nur überfliegen, schien sie regelmäßig bei den fragwürdigsten und widersprüchlichsten Details hängen zu bleiben.
Nachmittags, wenn es in der Hitze im Garten nicht mehr auszuhalten war, machten sie eine Pause. Ein paarmal gingen sie hinunter ans Wasser und badeten, oder sie setzten sich auf die Terrasse von Susannes Brücken-Café. Susanne begegnete Mikael plötzlich mit einer gewissen demonstrativen Kühle. Ihm ging auf, dass Lisbeth aussah, als wäre sie kaum volljährig, und trotzdem wohnte sie offensichtlich mit ihm in seinem Gästehäuschen zusammen. Das machte ihn in Susannes Augen zu einem Lüstling, der sich mit jungen Mädchen vergnügte. Ein unschönes Gefühl.
Mikael machte weiterhin jeden Abend seinen Geländelauf. Lisbeth gab keinen Kommentar ab, wenn er atemlos zum Gästehaus zurückkam. Über Stock und Stein zu rennen entsprach anscheinend nicht ihrer Vorstellung von Sommerfrische.
»Ich bin über vierzig«, verteidigte sich Mikael. »Ich muss mich bewegen, wenn ich in der Mitte nicht auseinandergehen will.«
»Aha.«
»Trainieren Sie nie?«
»Ich boxe ab und zu.«
»Boxen?«
»Ja, Sie wissen schon, mit Handschuhen.«
Mikael ging duschen und versuchte, sich Lisbeth in einem Boxring vorzustellen. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht vielleicht doch auf den Arm genommen hatte.
»In welcher Gewichtsklasse boxen Sie denn?«
»In gar keiner. Ich mache hie und da ein bisschen Sparring mit den Typen vom Boxclub in Söder.«
Warum wundert mich das gar nicht?, fragte sich Mikael. Aber er stellte fest, dass sie auf jeden Fall etwas Persönliches über sich erzählt hatte. Er wusste immer noch nicht über die grundlegendsten Fakten in ihrem Leben Bescheid - wie es sich ergeben hatte, dass sie für Armanskij arbeitete, was für eine Ausbildung sie hatte und was ihre Eltern machten. Sobald Mikael versuchte, mehr über sie zu erfahren, verschloss sie sich wie eine Auster und gab entweder einsilbige Antworten oder ignorierte ihn komplett.
Eines Nachmittags legte Lisbeth plötzlich einen Ordner aus der Hand und sah Mikael mit einer senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen an.
»Was wissen Sie über Otto Falk, den Pfarrer?«
»Ziemlich wenig. Anfang des Jahres habe ich die jetzige Pfarrerin hier in der Kirche ein paarmal gesehen. Sie hat mir erzählt, dass Falk inzwischen in einem Altenheim in Hedestad lebt. Alzheimer.«
»Woher kommt er?«
»Hier aus Hedestad. Er hat in Uppsala studiert und war ungefähr dreißig, als er wieder hierherzog.«
»Er war unverheiratet. Und Harriet war viel mit ihm zusammen.«
»Warum fragen Sie?«
»Ich stelle nur fest, dass der Bulle, dieser Morell, ihn beim Verhör ziemlich sanft angefasst hat.«
»In den sechziger Jahren hatten Pfarrer immer noch eine besondere Stellung in der Gesellschaft. Dass er hier auf der Insel wohnte, im direkten Umfeld der Macht sozusagen, war ganz natürlich.«
»Ich frage mich nur, wie sorgfältig die Polizei das Pfarrhaus durchsucht hat. Auf den Bildern sieht man ein großes Holzhaus; da muss es genug Platz gegeben haben, um eine Leiche eine Weile zu verstecken.«
»Stimmt. Aber es gibt keinen Hinweis, dass er irgendwie mit der Mordserie oder Harriets Verschwinden in Verbindung stehen könnte.«
»O doch«, sagte Lisbeth Salander und grinste Mikael schief an. »Erstens war er Pfarrer, und gerade Pfarrer haben ein ganz besonderes Verhältnis zur Bibel. Zweitens war er der Letzte, der mit Harriet gesprochen hat.«
»Aber er ging sofort zur Unfallstelle und blieb dort mehrere Stunden. Er ist auf jeder Menge Bildern zu sehen, besonders während der Zeitspanne, in der Harriet verschwunden sein muss.«
»Ach wo, sein Alibi kann man widerlegen. Aber ich habe eigentlich an etwas ganz anderes gedacht. Diese Geschichte handelt doch von einem sadistischen Frauenmörder.«
»Ja?«
»Ich war … Ich habe im Frühjahr in einem ganz anderen Zusammenhang ein bisschen über Sadisten gelesen. Einer der Texte, den ich gelesen habe, war ein Handbuch des FBI; dort stand, dass
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