Verblendung
wie ein Kind.«
»Ich bin noch nicht am Ziel. Momentan habe ich nur eine Theorie. Ich werde jetzt losziehen und versuchen, das letzte Puzzleteil zu finden. Nächstes Mal werde ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Das kann ein wenig dauern. Aber Sie sollen wissen, dass ich auf jeden Fall zurückkomme, und dann erfahren Sie die Wahrheit.«
Lisbeth zog eine Plane über ihr Motorrad und stellte es an der windgeschützten Seite der Hütte ab. Als Mikael und sie mit dem geliehenen Auto losfuhren, brach das Gewitter mit neuer Kraft wieder los. Südlich von Gävle wurden sie von einem so heftigen Schauer überrascht, dass Mikael kaum noch die Straße erkennen konnte. Sicherheitshalber steuerten sie eine Tankstelle an, wo sie einen Kaffee tranken und warteten, bis sich der Regen wieder legte. Erst um sieben Uhr abends waren sie in Stockholm. Mikael gab Lisbeth den Nummerncode für seine Wohnung und ließ sie an der U-Bahn-Haltestelle Centralen aussteigen. Seine eigene Wohnung kam ihm fremd vor, als er durch die Tür trat.
Er staubsaugte und trocknete ab, während Lisbeth bei Plague in Sundbyberg etwas zu erledigen hatte. Gegen Mitternacht klopfte sie an Mikaels Tür. Zehn Minuten lang nahm sie gründlich jeden Winkel und jede Ecke seiner Wohnung in Augenschein. Danach blieb sie lange am Fenster stehen und blickte hinaus.
Der Schlafbereich war mit einer Reihe frei stehender Kleiderschränke und Bücherregale abgetrennt. Sie zogen sich aus und schliefen ein paar Stunden.
Tags darauf gegen zwölf landeten sie am Londoner Flughafen Gatwick. Regenwetter empfing sie. Mikael hatte ein Zimmer im Hotel James am Hyde Park gebucht, ein hervorragendes, modernes Hotel im Vergleich zu all den Bruchbuden in Bayswater, in denen er bei früheren Besuchen in London immer logiert hatte. Die Rechnung wurde von Frodes Konto für die laufenden Ausgaben gedeckt.
Um fünf Uhr nachmittags standen sie an der Bar, als sich ihnen ein Mann um die dreißig näherte. Er war fast kahlköpfig, trug einen blonden Bart und eine zu große Jacke, Jeans und Segelschuhe.
»Wasp?«, fragte er.
»Trinity?«, fragte sie zurück. Sie nickten sich zu. Nach Mikaels Namen erkundigte er sich gar nicht.
Trinitys Partner wurde ihnen als »Bob the Dog« vorgestellt. Er wartete um die Ecke in einem alten Lieferwagen auf sie. Sie kletterten durch die Schiebetüren hinein und setzten sich auf die an der Wand befestigten Klappsitze. Während Bob sich durch den Londoner Verkehr navigierte, unterhielten sich Wasp und Trinity.
»Plague hat gesagt, es geht um einen crash-bang job .«
»Telefon abhören und E-Mails in einem Computer kontrollieren. Es kann superschnell gehen oder ein paar Tage dauern, je nachdem, wie viel Druck er macht.« Lisbeth deutete mit dem Daumen auf Mikael. »Kriegt ihr das hin?«
»Peanuts«, gab Trinity zur Antwort.
Anita Vanger wohnte in einem kleinen Reihenhaus im hübschen Städtchen St. Albans, eine knappe Autostunde in nördlicher Richtung. Aus dem Lieferwagen heraus beobachteten sie, wie sie gegen sieben Uhr abends nach Hause kam und die Tür aufschloss. Sie warteten, bis sie geduscht, eine Kleinigkeit gegessen und sich dann vor den Fernseher gesetzt hatte, bevor Mikael bei ihr klingelte.
Eine fast identische Ausgabe von Cecilia Vanger öffnete ihm, auf dem Gesicht ein höfliches Fragezeichen.
»Hallo, Anita. Ich heiße Mikael Blomkvist. Henrik Vanger lässt Sie schön grüßen. Ich nehme an, Sie kennen die Neuigkeiten von Martin schon.«
Ihr Gesichtsausdruck wechselte von Erstaunen zu Wachsamkeit. Als sie den Namen hörte, wusste sie genau, wer Mikael Blomkvist war. Sie hatte Kontakt mit Cecilia gehabt, die höchstwahrscheinlich eine gewisse Verärgerung über Mikael zum Ausdruck gebracht hatte. Aber da er Henriks Namen nannte, musste sie ihn hereinbitten. Sie bat Mikael, im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Er sah sich um. Anita Vangers Zuhause war geschmackvoll eingerichtet - von einer Person, die Geld und ein erfülltes Berufsleben hatte, aber kein großes Aufheben von sich machte. Er bemerkte eine signierte Grafik von Anders Zorn über einem offenen Kamin.
»Verzeihen Sie, dass ich Sie so aus heiterem Himmel behellige, aber ich war sowieso in London und habe tagsüber versucht, Sie anzurufen.«
»Verstehe. Worum geht es denn?« Ihre Stimme klang defensiv.
»Haben Sie vor, zur Beerdigung zu fahren?«
»Nein, Martin und ich standen uns nicht sehr nahe, und ich kann mir auch nicht freinehmen.«
Mikael nickte. Anita
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