Verblendung
hoch.«
Henrik Vanger saß auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer. Eine Reihe Zeitungen lag vor ihm auf dem Tisch.
»Ich bin gerade Martin begegnet.«
»Da hetzt er davon, das Imperium zu retten«, sagte Henrik Vanger und hob die Thermoskanne. »Kaffee?«
»Danke, gern«, antwortete Mikael. Er nahm Platz und fragte sich, warum Henrik Vanger so amüsiert aussah.
»Wie ich sehe, beschäftigen sich die Zeitungen wieder mit Ihnen.«
Henrik Vanger schob ihm eine der Abendzeitungen zu, die bei der Überschrift »Medialer Kurzschluss« aufgeschlagen war. Der Artikel stammte von einem Kolumnisten mit gestreiftem Sakko, der früher für das Wirtschaftsmagazin Monopol gearbeitet hatte und sich den Ruf eines Experten erworben hatte, indem er in spöttischem Ton über alle herzog, die sich für etwas engagierten. Nun hatte er sich offensichtlich auf Medienkritik verlegt. Ein paar Wochen nach dem Prozess in der Wennerström-Affäre konzentrierte er all seine Energie auf Mikael Blomkvist, der namentlich als Vollidiot hingestellt wurde. Erika Berger hingegen ließ er aussehen wie eine dumme Blondine:
Es geht das Gerücht, dass Millennium auf den Ruin zusteuert, obwohl die Chefredakteurin eine Minirock tragende Feministin ist und ständig ihr Schmollmündchen in die Fernsehkameras hält. Das Magazin hat mehrere Jahre mit Hilfe des Images überlebt, das die Redaktion in der Öffentlichkeit erfolgreich aufgebaut hatte - junge Journalisten, die Enthüllungsjournalismus betreiben und die Bösewichte der Geschäftswelt enttarnen. Dieser Werbetrick funktioniert vielleicht bei ahnungslosen jungen Leuten, die diese Art Message hören wollen, beim Amtsgericht funktioniert er jedoch nicht - wie Kalle Blomkvist kürzlich selbst erfahren musste.
Mikael schaltete sein Handy ein und sah nach, ob er einen Anruf von Erika erhalten hatte, aber das war nicht der Fall. Henrik Vanger wartete wortlos, bis Mikael begriff, dass der alte Mann es ihm selbst überlassen wollte, das Schweigen zu brechen.
»Ein Idiot ist das.«
Vanger lachte, kommentierte jedoch völlig unsentimental: »Kann schon sein. Aber er ist nicht vom Amtsgericht verurteilt worden.«
»Stimmt. Und das wird er auch nie werden. Er ist Experte darin, selbst nie etwas Kontroverses zu äußern, dafür andere umso ausgiebiger mit Schmutz zu bewerfen.«
»Solche habe ich zu meiner Zeit viele gesehen. Ein guter Rat - falls Sie einen von mir annehmen: Ignorieren Sie sein Gezeter, vergessen Sie nichts, und zahlen Sie es ihm zurück, sobald Sie die Gelegenheit dazu haben. Aber nicht jetzt, wo er die Oberhand hat.«
Mikael sah ihn fragend an.
»Ich habe im Laufe der Jahre viele Feinde gehabt. Eines habe ich dabei gelernt, nämlich niemals zu kämpfen, wenn man nur verlieren kann. Trotzdem darf man einem Menschen seine Beleidigungen nicht durchgehen lassen. Man muss den richtigen Augenblick abwarten und zurückschlagen, sobald man selbst am längeren Hebel sitzt - auch wenn man dann nicht mehr zurückzuschlagen brauchte.«
»Danke für die Lehrstunde. Jetzt hätte ich gerne, dass Sie mir von Ihrer Familie erzählen.« Mikael stellte ein Tonbandgerät auf den Tisch und drückte die Aufnahmetaste.
»Was wollen Sie wissen?«
»Ich habe die erste Akte gelesen, über Harriets Verschwinden und die Suche in den ersten Tagen. Aber es tauchen so unendlich viele Vangers in den Texten auf, dass ich sie nicht mehr auseinanderhalten kann.«
Lisbeth Salander stand regungslos im leeren Treppenhaus und fixierte das Messingschild mit der Aufschrift Rechtsanwalt N. E. Bjurman , bevor sie schließlich klingelte. Das Türschloss klickte.
Es war Dienstag, es war die zweite Sitzung, und sie hatte böse Vorahnungen.
Sie hatte keine Angst vor Anwalt Bjurman - Lisbeth Salander hatte fast vor nichts und niemand Angst. Der neue Betreuer hingegen flößte ihr äußerstes Unbehagen ein. Sein Vorgänger, der Anwalt Holger Palmgren, war aus ganz anderem Holz geschnitzt gewesen, korrekt, höflich und freundlich. Ihre Zusammenarbeit war vor drei Monaten beendet worden, als Palmgren einen Schlaganfall erlitt und Nils Erik Bjurman sie einer ihr unbekannten bürokratischen Hackordnung gemäß »geerbt« hatte.
In den knapp zwölf Jahren, in denen Lisbeth Salander in sozialer und psychiatrischer Betreuung gewesen war, darunter zwei Jahre in einer Kinderklinik, hatte sie niemals - nicht bei einer einzigen Gelegenheit - auch nur auf die einfache Frage »Wie geht es dir denn heute?« geantwortet.
Als sie
Weitere Kostenlose Bücher