Verblendung
dreizehn wurde, hatte das Gericht auf Grundlage des Gesetzes über die Fürsorge Minderjähriger entschieden, dass sie auf der geschlossenen Station in der Kinderpsychiatrie der St.-Stefans-Klinik in Uppsala untergebracht werden sollte. Die Entscheidung gründete darauf, dass sie als psychisch gestört eingestuft wurde und wegen ihrer Gewalttätigkeit als Gefahr für ihre Klassenkameraden und vielleicht sogar für sich selbst galt.
Diese Annahme gründete eher auf empirischen Erkenntnissen als auf einer sorgfältig abwägenden Analyse. Jeder Arzt und jeder Vertreter einer Behörde, der versuchte, mit ihr ein Gespräch über ihre Gefühle, ihr Seelenleben oder ihren Gesundheitszustand zu führen, stieß auf mürrisches Schweigen. Sie starrte intensiv Boden, Decke und Wände an, hielt die Arme konsequent vor der Brust verschränkt und weigerte sich, psychologische Tests zu absolvieren. Ihr totaler Widerstand gegen jeglichen Versuch, sie zu messen, wiegen, untersuchen, analysieren und zu erziehen, erstreckte sich auch auf den schulischen Bereich - die Behörden konnten sie wohl in ein Klassenzimmer transportieren und sie am Tisch festketten, aber das hielt sie nicht davon ab, die Ohren auf Durchzug zu schalten und sich zu weigern, einen Füller in die Hand zu nehmen. Sie verließ die Schule ohne ein Abschlusszeugnis.
Kurz und gut, Lisbeth Salander war alles andere als leicht zu handhaben.
Als sie dreizehn war, wurde ein Betreuer bestellt, der ihre Interessen wahrnehmen und ihr Vermögen verwalten sollte, bis sie die Volljährigkeit erreichte. Dieser Betreuer wurde Holger Palmgren, der trotz eines ziemlich komplizierten Starts tatsächlich Erfolg hatte, wo Psychiater und Ärzte gescheitert waren: Er hatte nicht nur ein gewisses Vertrauen erworben, das störrische Mädchen hatte ihm sogar spärlich dosierte Wärme entgegengebracht.
Als sie fünfzehn wurde, waren sich die Ärzte mehr oder weniger einig, dass sie zumindest nicht gemeingefährlich oder eine unmittelbare Gefahr für sich selbst war. Da ihre Familie als dysfunktional definiert worden war und sie keine Verwandten hatte, die für ihr Wohlergehen hätten sorgen können, hatte man beschlossen, Lisbeth Salander aus der Kinderpsychiatrie von St. Stefan in Uppsala zu entlassen und sie mittels einer Pflegefamilie wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Der Weg war nicht einfach gewesen. Von der ersten Pflegefamilie riss sie schon nach zwei Wochen aus. Pflegefamilie Nummer zwei und drei waren auch schnell abgehakt. Danach hatte Palmgren ein ernstes Gespräch mit ihr geführt und ihr rundheraus erklärt, wenn sie weitermache wie bisher, würde sie zweifellos wieder in irgendeine Anstalt eingewiesen werden. Die versteckte Drohung hatte zur Folge, dass sie Pflegefamilie Nummer vier akzeptierte - ein älteres Paar im Vorort Midsommarkransen.
Das bedeutete aber noch lange nicht, dass sie sich jetzt besser aufgeführt hätte. Als Siebzehnjährige wurde sie viermal von der Polizei aufgegriffen, zweimal so schwer betrunken, dass sie in die Intensivstation eingeliefert werden musste, und einmal offensichtlich im Drogenrausch. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte man sie sternhagelvoll und mit ungeordneter Kleidung auf dem Rücksitz eines Autos gefunden, das am Söder Mälarstand parkte. Sie hatte sich in Gesellschaft eines ebenso betrunkenen und wesentlich älteren Mannes befunden.
Das letzte Mal wurde sie aufgegriffen, als sie am Durchgang zur U-Bahn-Station Gamla Stan, drei Wochen vor ihrem achtzehnten Geburtstag, in nüchternem Zustand einem männlichen Passanten Fußtritte gegen den Kopf versetzt hatte. Der Vorfall endete damit, dass sie wegen Körperverletzung festgenommen wurde. Salander hatte sich damit gerechtfertigt, dass der Mann sie befummelt hätte, und da sie nach Statur und Aussehen eher für zwölf als für achtzehn Jahre durchging, war sie der Meinung, der Mann habe pädophile Neigungen. Ihre Aussage gegenüber den Polizisten, die sie verhörten, bestand zunächst aus zwei Sätzen: » Er hat mich begrapscht. Beschissener Lustgreis .« Die Aussage wurde jedoch von Zeugen gestützt, sodass der Staatsanwalt die Sache fallen ließ.
Insgesamt war ihr Hintergrund aber solcherart, dass das Gericht eine psychiatrische Untersuchung anordnete. Da sie sich wie gewohnt weigerte, Fragen zu beantworten oder sich an den Untersuchungen zu beteiligen, fällten die vom Gesundheits- und Sozialamt konsultierten Ärzte schließlich ein Gutachten, das auf der »Beobachtung
Weitere Kostenlose Bücher