Verborgene Lust
vergessen versucht hatte: den weißhaarigen Mann, den sie in der Nacht gesehen hat, als Felix und sie zum ersten Mal zusammen ausgegangen waren. Er sieht sie an und kommt direkt auf sie zu.
»Weißt du, wer das ist? Der große Mann mit den weißen Haaren?«, zischt sie René zu.
»Na, klar, das ist doch Olivier, Felix’ Bruder!«
Felix hat einen Bruder! Er hat eine heimliche Frau und einen heimlichen Bruder. Wen und was versteckt er noch vor ihr? Es tut so weh, dass er ihr nichts erzählt hat, dass er ihr nicht vertraut.
Und jetzt steht Olivier vor ihr und schüttelt René mit herablassender Miene die Hand. Natürlich, jetzt sieht sie, dass er sein Bruder ist. Sie haben die gleichen tiefliegenden Augen und die gleiche grüblerische Ausstrahlung.
»Ich glaube, du hast Maria noch nicht kennengelernt«, plappert René nervös.
»Hast du wieder gequatscht, René?«, fragt Olivier den kleinen Mann.
»Nun, ich dachte, sie wüsste …« Unter dem Blick des anderen Mannes verstummt René.
Olivier wendet Maria seine ganze Aufmerksamkeit zu. Offensichtlich ist er der ältere Bruder, er besitzt dieselbe autoritäre Ausstrahlung wie Felix. »Mademoiselle«, sagt er und nimmt förmlich ihre Hand. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, obwohl ich glaube, dass mein Bruder uns lieber persönlich vorgestellt hätte.«
Aber Felix hätte das tun können – in jener Nacht vor ein paar Wochen im Club.
Langsam erholt sich Maria von dem Schock, dass Felix’ Frau noch lebt. Und nicht nur das, laut René ist Felix jetzt bei ihr, während Maria hier mit seinem Bruder in diesem Club steht. »Wo ist Felix?«, fragt sie Olivier ohne Umschweife.
»Na, auf dem Schloss«, entgegnet er. »Er kommt morgen zurück. Sobald er wieder in Paris ist, wird er Ihnen alles erklären.«
»Nein«, sagt sie mit Nachdruck. »Ich will, dass Sie mich jetzt dorthin bringen.«
Er runzelt die Stirn und scheint verblüfft von ihrer Forderung. »Aber es ist mitten in der Nacht. Und es ist eine ziemlich weite Fahrt von hier.«
»Haben Sie einen Wagen?«
»Nein, deshalb ist es nicht möglich.«
»Aber ich habe einen Wagen«, tönt René, woraufhin Olivier ihm einen wütenden Blick zuwirft.
»Ich bestehe darauf, dass du mich zu diesem Schloss bringst«, sagt Maria an René gewandt. »Andernfalls verlasse ich Paris noch heute Nacht, und Felix wird mich nie wiedersehen. Und das ist dann deine Schuld, René.«
»Aber ich kenne den Weg nicht«, widerspricht dieser.
»Dann müssen Sie mitkommen und ihm den Weg zeigen«, fordert Maria kühn von Olivier.
Felix’ Bruder legt ihr eine kalte Hand auf den Arm und schüttelt bedauernd den Kopf. »Aber, Maria, Felix hat mir so viel von Ihnen erzählt«, sagt er sanft. »Er liebt Sie sehr. Können Sie nicht warten, bis er wieder in Paris ist?«
»Nein, das kann ich nicht«, entgegnet sie, selbst überrascht von ihrer Wut. »Ich muss ihn jetzt sehen. Ich will die Wahrheit wissen.«
»Die Wahrheit«, sagt Olivier düster, »ist eine überaus komplizierte Angelegenheit.«
Valentina
Sie sind nur noch zu viert, liegen auf Sofa und Sessel und lauschen der irischen Sängerin Clara Rose und ihrem Lied »Girl«.
Ich kannte einmal ein Mädchen, das hatte kein Gespür für die Realität
Sie ging auf eine Party, das war ihr Untergang
Ich blieb allein zu Hause und trank
Doch am Ende war ich besser dran
Valentina ist das Mädchen aus dem Lied. Sie hätte nicht kommen sollen. Thomas die ganze Nacht über zusammen mit Anita zu sehen macht sie krank, und dennoch kann sie nicht aufgeben. Sie kann nicht für immer gehen – noch nicht. Valentina sieht zu, wie die nächtliche Dunkelheit langsam dem Morgengrauen weicht, als würde der Himmel einen Vorhang lüften. Der Fluss glänzt wie glattes Metall, als hätte er aufgehört zu fließen und würde sich eine kurze Pause gönnen.
»Ich glaube, ich gehe«, sagt Chloe, erhebt sich aus ihrem Sessel und streicht ihre kurzen roten Haare glatt.
»Bist du sicher, Süße?«, fragt Anita. »Du kannst gern bleiben. Es ist genügend Platz.«
Spürt Chloe die sexuelle Spannung, die den ganzen Abend über zwischen den dreien schwelt? Oder will sie einfach nach Hause in ihr eigenes Bett? Jedenfalls verabschiedet sich Anitas Cousine, und ein paar Minuten später sind die drei allein. Sie sitzen in einer Reihe nebeneinander auf dem riesigen weißen Sofa, nippen jeder an einem Glas Whiskey und blicken aus dem Fenster auf die Stadt. Als sie fast schon aufgeben will, begreift sie,
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