Verborgene Lust
unverhältnismäßig beunruhigt, dass Felix nicht da ist. Sie schwingt herum und sitzt, mit den Beinen baumelnd, auf der Bettkante. Sie denkt an den Sex von letzter Nacht und was davor im Club geschehen ist. Wollte Felix dem jungen Amerikaner ernsthaft einen Dreier vorschlagen? Maria muss zugeben, dass die Vorstellung, mit beiden Männern zu schlafen, sie erregt hat, doch sie ist Felix ergeben. Wie kann sie mit einem anderen Mann schlafen wollen, wenn sie nur ihn liebt?
Als sie aufsteht und tief einatmet, entdeckt Maria, was sich verändert hat. Normalerweise lagert Felix die Kamera in einem Koffer in der Zimmerecke. Sie ist weg. Maria runzelt die Stirn und geht zögernd auf den Schrank zu. Er hängt voll mit ihren neuen Kleidern, die in allen Farben leuchten, aber Felix’ Ersatzanzug ist weg, ebenso wie sein Koffer. Maria unterdrückt einen panikartigen Aufschrei. Ist er gegangen? Sie nimmt eines der Kleider vom Bügel und zieht sich hastig an. Auf Make-up und Frisur verzichtet sie. Ohne genau zu wissen, wo sie nach ihm suchen soll, rennt Maria die Treppen hinunter. Am besten fängt sie mit einem der Cafés an, in denen sie sich häufig aufhalten.
»Mademoiselle! Halt!«, ruft Madame Paget ihr zu, als sie durch die Hotelhalle fliegt.
»Mademoiselle, Monsieur Leduc hat einen Brief für Sie hinterlassen.« Madame Paget winkt mit einem Umschlag.
Maria errötet vor Verlegenheit. Warum hat Felix den Brief der Concierge gegeben, anstatt ihr im Zimmer eine Nachricht zu hinterlassen oder sie zu wecken? Sie nimmt den Brief entgegen und bedankt sich bei der Frau, die sie neugierig über den Rand ihrer Brille hinweg mustert. Ihre Haare leuchten noch röter, als Maria sie in Erinnerung hatte.
»Sie wissen ja, dass die Miete morgen fällig ist«, mahnt Madame Paget und schürzt die Lippen, sodass sie einen dicken klebrigen roten Balken bilden.
»Ja, danke«, sagt Maria und entfernt sich so schnell sie kann.
Es ist lange her, dass sie so früh auf den Beinen gewesen ist. Wäre sie nicht so ängstlich wegen des Briefs in ihrer Hand, würde sie den morgendlichen Spaziergang durch Saint-Germain-des-Prés vielleicht genießen. Sie eilt über das Kopfsteinpflaster und sucht nach einem Park, einer Bank, nach irgendetwas, wo sie sich setzen kann. Schließlich entdeckt sie ein kleines Café, in dem sie noch nie gewesen ist, bestellt Kaffee und Croissant, setzt sich und reißt, so schnell sie kann, den Umschlag auf.
Meine liebe Maria,
ich muss ein paar Tage verreisen, mein Liebling. Ich arbeite an einem Film. Hier ist etwas Geld für Miete und Essen. Genieße deine Freiheit. Ich bin bald zurück.
In Liebe, dein Felix
Sie zieht ein Bündel Franc-Noten aus dem Umschlag und hält sie in der Hand. Ihre Aufregung lässt nach. Alles ist gut. Er ist nur für ein paar Tage weg. Er hat ihr sogar Geld dagelassen. Mit dem Finger verfolgt Maria seine Handschrift. Er unterschreibt mit »dein Felix«. Er gehört ihr. Ach, warum hat er sie nicht geweckt und noch einmal mit ihr geschlafen, bevor er gegangen ist? Sie vermisst ihn schon jetzt.
Den Tag über läuft Maria lustlos durch Paris. Sie verlässt ihr Viertel, überquert die Seine und besucht die Î le de la Cité. Die Menschen auf dieser Seite des Flusses sind anders. Hier scheinen die Gegensätze größer zu sein. Maria sieht sowohl ärmere Menschen, die in den Hauseingängen kauern – Flüchtlinge, einsame und hungrige Menschen –, als auch schickere Leute – forsche Geschäftsmänner, die vor Entschlossenheit strotzen, gut genährte Amerikaner und elegante Damen. Sie sieht sogar eine Frau in Diors neuer Kollektion. Maria bleibt unweigerlich stehen und starrt sie bewundernd an. Wie unzureichend ihre selbstgemachte Version dagegen wirkt! Die Kleider, die Felix ihr gekauft hat, sind hübsch, aber keines ist annähernd so elegant wie das Kleid dieser Frau. Ihre Silhouette erinnert Maria an eine Ballerina: Eine schmale Taille mit gebauschtem Rock, ihre kleinen Füße und die schlanken Fesseln sehen aus wie bei einer Puppe.
Maria betrachtet die herrschaftliche Fassade von Notre-Dame und überlegt, ob sie hineingehen darf. Ihre Mutter hat sie nicht religiös erzogen, aber Maria hat eine Klosterschule besucht. Etwas davon hat auf sie abgefärbt. Was würden die Nonnen jetzt zu ihr sagen? Hure. Sünderin. Gefallene. Und zu Felix? Ist er der Teufel persönlich? Doch wenn sie ihre Filmszenen inszenieren, fühlt sich die Verbindung zwischen ihnen nicht sündig an. Vielmehr erfahren sie
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